Digital Twin: Virtuelle Welt und Realität im engen Austausch
Ohne interaktive Verknüpfung mit dem realen Gebäude bildet ein digitales Bauwerksmodell dieses nur ab. Einen echten digitalen Zwilling zeichnet deshalb genau dieser Link zum physischen Bauwerk aus. Wie damit künftig Gebäudeprozesse in Echtzeit angesehen, ausgewertet und gesteuert werden, zeigt die Fachhochschule Nordwestschweiz mit einem Prototyp exemplarisch.
Komplexe neue Konzepte verständlich zu vermitteln, ist nicht einfach. Das gilt auch für den sogenannten Digital Twin, also den digitalen Zwilling eines existierenden oder entstehenden Bauwerks, der die Optimierung von Bau- und Immobilienprozessen ermöglicht. An der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) hat man sich deshalb für einen praxisnahen Ansatz entschieden und einen von Studenten und Interessenten selbst erfahrbaren Digital-Twin-Prototyp für die Lehre und Forschung entwickelt. Einer breiten Öffentlichkeit erstmals vorgestellt wurde das vom «Lehrfonds FHNW» finanzierte Projekt an der Swissbau 2020.
Federführend im interdisziplinären Projekt sind Dr. Wissam Wahbeh, Verantwortlicher für den Fachbereich BIM-Modellierungstechnologien am Institut Digitales Bauen, und Professor Dominique-Stephan Kunz, der die Gruppe technische Gebäudesysteme am Institut Energie am Bau leitet. «Mit unserem Prototyp wollen wir verständlich aufzeigen, wie sich mittels IoT – also dem Internet der Dinge – das digitale Bauwerksmodell mit dem realen Gebäude nutzbringend vernetzen lässt», erläutert Architekt Wahbeh. Denn ein Building Information Model (BIM) als digitales Abbild eines Gebäudes werde erst durch die interaktive Verbindung zur gebauten Realität zum richtigen Digital Twin, so ihre gemeinsame Auffassung.
Für Sensorik offenes BIM-Modell
Was die beiden FHNW-Dozenten unter einem Digital Twin verstehen, der diese Bezeichnung auch verdient, demonstrieren sie gleich selbst in einem Unterrichtszimmer des Campus Muttenz. Aus didaktischen Gründen hätten sie sich entschieden, ihren Prototyp für einen Teilbereich des würfelförmigen Muttenzer Campusgebäudes zu erstellen, in dem auch die eigene Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik zu Hause ist, sagt Ingenieur Kunz. «Um die Komplexität zu reduzieren, haben wir uns dabei auf einen überschaubaren Stockwerkabschnitt fokussiert.»
Auf dem Tisch steht denn auch ein Modell des spezifischen Campus-Ausschnitts in Form eines originalgetreuen 3-D-Drucks. «Diese Miniaturausgabe des realen Bauwerks haben wir mit 16 Lichtsensoren und zahlreichen LEDs ausgestattet, um so ein beispielhaftes Beleuchtungsszenario durchspielen zu können», erklärt Kunz. Konkret hat er eine Konstantlicht-Regelung implementiert, also ein Gebäudeautomationskonzept der zweithöchsten Stufe, das an den fiktiven Arbeitsplätzen im 3-D-Druck immer den Normwert von 500 Lux garantiert. «Wenn das durch die Fenster dringende Sonnenlicht ausreicht, diese Vorgabe zu erreichen, wird die künstliche Beleuchtung ausgeschaltet, ansonsten hinzugeschaltet und bedarfsgerecht gedimmt», so Kunz weiter.
Beim FHNW-Prototyp interagiert der mit Sensoren und Leuchtmitteln bestückte 3-D-Druck als physischer Zwilling direkt mit seinem virtuellen Pendant. Und tatsächlich zeigt der wuchtige Wandscreen darüber den dazugehörigen digitalen Zwilling, nämlich das dreidimensionale digitale Modell des entsprechenden Stockwerkabschnitts. Dieses BIM-Modell gibt zudem einen guten Überblick über den aktuellen Betriebsstatus sämtlicher 16 Beleuchtungszonen: Ausgeschaltete LEDs sind im digitalen Bauwerksmodell mit Schwarz hinterlegt, eingeschaltete mit derjenigen Lichtfarbe, in der sie gerade leuchten.
Quelle: Gabriel Diezi
Feinfühliger 3-D-Druck: Die Miniaturausgabe des realen Campus-Stockwerkabschnitts ist mit 16 Lichtsensoren und zahlreichen LEDs ausgestattet, die auf den simulierten Tageslichteinfall durch die Fenster prompt reagieren.
Wechselseitiger Austausch
Wahbeh startet nun beim physischen Zwilling die Simulation des Lichteinfalls durch die Zimmerfenster im Tagesverlauf. Dafür wird das Tablet-Display, auf dem der 3-D-Druck steht, mit dem simulierten Tageslichtmuster bespielt. «Die im physischen Modell eingebauten Sensoren messen die Sonnenlichtstärke in den 16 definierten Zonen und geben diese Informationen an die Prozesssteuerung der Gebäudeautomation weiter», sagt Wahbeh. «Das Kunstlicht wird automatisch ein- oder ausgeschaltet respektive heller oder dunkler gedimmt, um so die geforderten 500 Lux zu erreichen.» Gleichzeitig wird der neue Status der Beleuchtung im digitalen Bauwerksmodell (BIM) in Echtzeit aktualisiert.
Danach ändert Wahbeh die Kontroll-Parameter im BIM-Modell manuell und verlangt so mittels digitalen Zwilling einen Lichtfarbenwechsel von weiss auf blau in allen Zimmern, die zu einer der 16 Beleuchtungszonen gehören. Diese Informationen werden via Gebäudeautomation als Steuerbefehl an die LEDs des physischen Zwillings weitergegeben. Beim 3-D-Druck wechselt die Beleuchtung in den definierten Zimmern sofort auf blau. «Zwischen dem physischen und dem digitalen Zwilling unseres Prototyps werden die Daten also in beide Richtungen übertragen, das heisst sowohl vom digitalen Bauwerksmodell zum physischen Bauwerk, als auch umgekehrt», fasst Wahbeh zusammen.
Mehrwert entsteht im Verbund
Genau dieser interaktive Realtime-Austausch von Zustands-, Nutzungs- und Analysedaten sowie Steuerungsbefehlen macht das von der FHNW exemplarisch erprobte Digital-Twin-Konzept für die künftige Praxis so vielversprechend. Die über Sensoren gesammelten Informationen eines Gebäudes und die Daten des digitalen Bauwerksmodells, also die Geometrien und sonstigen Eigenschaften der Bauelemente, werden vereinfacht gesagt in einer einzigen Datenbank zusammengeführt. Da dies in Echtzeit geschieht, ist der digitale Zwilling stets auf dem aktuellen Stand darüber, was, wo, weshalb bei seinem realen Geschwister stattfindet. Nebst Auswertungen werden so auch Einblicke und Eingriffe in die Gebäuderealität ermöglicht – dies zeitungebunden und ohne zeitliche Verzögerung.
Auch die Leitsysteme heutiger Gebäudeautomation nutzen Sensordaten, sind also mit dem Internet der Dinge verbunden, um vor Ort autonom regeln zu können. Doch oft verbleiben die IoT-Gebäudedaten auf einer vom digitalen Bauwerksmodell völlig unabhängigen Plattform. Interaktive Verbindung? Fehlanzeige! «Gängige Gebäudetechnik-Leitsysteme liefern dem Anlagenbetreiber und seinem Wartungspersonal primär schematische funktionale Darstellungen. Was jedoch komplett fehlt, ist der konkrete geometrische Bezug», umreisst Kunz die Konsequenz der fehlenden Verknüpfung. Dabei kann eine örtliche Visualisierung im BIM-Modell etwa im Störungsfall sehr hilfreich sein, gerade bei fehlenden Anlage-Detailkenntnissen. «Im digitalen Zwilling wird dem Nutzer dann beispielsweise genau angezeigt, in welchem Raum und an welcher Stelle sich die ausgefallene Pumpe befindet», sagt Kunz. Das Wartungspersonal ist somit schneller und mit dem richtigen Material vor Ort, wertvolle Arbeitszeit wird eingespart.
Quelle: Gabriel Diezi
Das sind die beiden Köpfe hinter dem Digital-Twin-Prototyp der FHNW (von links): Prof. Dominique-Stephan Kunz, Gruppenleiter technische Gebäudesysteme am Institut Energie am Bau, und Dr. Wissam Wahbeh, Fachbereichsverantwortlicher BIM-Modellierungstechnologien am Institut Digitales Bauen.
Clever Putzen dank BIM-Verortung
Auch das vereinzelt bereits praktizierte «Smart Cleaning» funktioniert nicht ohne geometrischen Bezug. Bei diesem Anwendungsfall werden stark genutzte Räume regelmässiger und intensiver gereinigt, als schwach frequentierte Zimmer. «Um abzulesen, wie gut beispielsweise ein Besprechungszimmer ausgelastet ist, drängt sich die Auswertung der Buchungsinformationen im Outlook-Kalender auf», sagt Kunz. Denn als Indikatoren umfassen diese nebst den Belegungszeiten auch die Anzahl der Sitzungsteilnehmer. Werden diese Informationen mit den Daten einfacher Bewegungsmelder ergänzt, bleiben auch Abweichungen von den geplanten Sitzungszeiten nicht unberücksichtigt. Gebuchte Räume, die dennoch nicht genutzt werden, können für andere Zwecke freigegeben werden.
Alle zusammengetragenen Informationen fliessen in die Datenbank eines zweiten Systems ein, in dem sie mittels komplexer Algorithmen automatisiert ausgewertet werden. Die Ergebnisse dieser Datenanalyse kann der Nutzer als Diagramme abrufen, die ihm die Benutzungsintensität im zeitlichen Verlauf veranschaulichen. Will ein Immobilienbewirtschafter nun zum Beispiel die Beliebtheit der einzelnen Besprechungszimmer miteinander vergleichen, um konkrete Massnahmen zur Nutzerlenkung zu ergreifen, benötige er ebenfalls den geometrischen Bezug. «Er muss wissen, welche Räume nahe beim Lift liegen und welche Zimmer fensterlos sind. Denn Prozessoptimierungen im Betrieb einer Liegenschaft basieren fast immer auf der Verortung im digitalen Bauwerksmodell», so Kunz. Und tatsächlich ist diese etwa auch Voraussetzung für Personenleitsysteme in Betriebskantinen oder Ausweichempfehlungen bei stark frequentierten Personenaufzügen im Gebäude.
Digitaler Zwilling nützt auch Bau
Ein weiteres vielversprechendes betriebliches Konzept ist «Predictive Maintenance», was sich mit vorausschauender Wartung übersetzen lässt. Mit Sensoren gemessene physikalische Grössen werden hier mit Daten zur Nutzung des Gebäudes kombiniert – und schon lassen sich Wartungszeiten sowie -intervalle im Unterhalt der Gebäudetechnik optimieren. Wann beispielsweise die Komponenten einer Lüftungsanlage instandgehalten werden, entscheidet nicht mehr der Ingenieur mittels vorgegebenem Rhythmus. Für den Wartungszeitpunkt ausschlaggebend sind dann die tatsächliche Beanspruchung, die in einer Datenbank erfassten Betriebserfahrungen und die zukünftig geplanten Nutzungen. Gewartet wird somit erst, wenn dies sowohl ökonomisch als auch ökologisch Sinn ergibt.
Die Anwendung des Digital-Twin-Konzepts der FHNW ist aber nicht erst in der Betriebsphase einer Liegenschaft möglich. Auch auf Baustellen wird hierzulande zunehmend digital unterstützt gearbeitet, das Stichwort heisst hier BIM-to-Field. Während der Erstellung wird der Baufortschritt dabei laufend mit dem digitalen Bauwerksmodell abgeglichen. Polier und Bauführer erkennen so materielle, terminliche oder kostentechnische Abweichungen frühzeitig und können sofort angemessen darauf reagieren. Für Kunz wäre aber etwa auch eine Anwendung im Bereich der Diebstahl-Prävention denkbar. «Für gewisse Zonen, wie beispielsweise den Installationsplatz oder die Baustelleneinfahrt, liesse sich im BIM-Modell live nachführen, wo sich welche Gerätschaften, Fahrzeuge und Materialien befinden.» Dank der Verbindung zwischen der Realität und der virtuellen Welt würde folglich ein unbekannter Transporter in einem sensitiven Bereich nicht lange unbemerkt bleiben.
Energie und Roboter im Fokus
Ob im Bau oder Betrieb: Unabdingbare Voraussetzung für alle Digital-Twin-Anwendungen sind zahlreiche Sensoren, die in der Realität Informationen sammeln und diese in Echtzeit ans digitale Bauwerksmodell weitergeben. Erhöht dies denn nicht den Energiebedarf eines Gebäudes? «Viele Sensoren sind auch betrieblich notwendig. Dann liegt es doch nahe, deren Daten aufzuzeichnen und für prozessuale Optimierungen zu nutzen», relativiert Kunz den Einwand. Bevor man jedoch zusätzliche Messfühler installiere, gelte es schon abzuwägen, was Sinn mache. «Dabei sollten wir jedoch nicht vergessen, dass wir durch die sinnvolle Nutzung des digitalen Zwillings grosse Energieeinsparungen im Betrieb von Gebäuden erzielen», ergänzt Wahbeh. Die höhere Energieeffizienz habe verschiedene Gründe: Der Energieverbrauch werde in Echtzeit angezeigt, und der künftige Verbrauch könne prognostiziert oder simuliert werden.
Einen Digital Twin, der das reale Bauwerk als einzige Informationsquelle stetig spiegelt und auch automatisch steuert, gibt es noch nicht. «Das Potenzial dazu ist jedoch vorhanden – und dies nicht erst in weiter Zukunft», zeigt sich Wahbeh überzeugt. Dafür müsse es uns gelingen, die Fülle an Informationen mit maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz zu verbinden. Voraussetzung für den vermehrten Einsatz von Robotern in unseren Gebäuden ist allerdings, dass sämtliche Daten maschinenlesbar sind. «Gelingt uns das Zusammenbringen aller Informationen, können wir gleichzeitig mit den leider immer noch weit verbreiteten Redundanzen aufräumen, die zu Datenkonflikten führen und die Datenpflege erschweren.» Anzustreben ist deshalb gemäss Wahbeh ein digitaler Zwilling als Datencontainer, aus dem sich alle berechtigten Nutzer bedienen können. «Denn dann stimmt die virtuelle Welt immer mit der Realität überein.»