Die Poesie des Vergehens: Vom Leben einer toten Fichte
Totholz lebt. Es bietet zahlreichen Organismen ein Zuhause, zum Beispiel Pilzen und Insekten. Davon erzählt der Fotograf Sam V. Furrer in seinem Band «Poesie des Vergehens – vom vielfältigen Leben einer toten Fichte». Fachleute der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft steuerten erklärende Texte zu den Bildern bei.
Quelle: Sam V. Furrer
Die zerlegte Fichte.
Der
naturbegeisterte Fotograf Sam V. Furrer entdeckte nach einem Hochwasser im
Sommer 2021 einen an Land gespülte Fichte. Sie lag an einem Strand des
Vierwaldstättersees, den er gern aufsucht. Erst störte den Zürcher der grosses
Stamm und er begann, für sein abendliches Lagerfeuer Holz daraus zu hacken.
Dabei entdeckte er, wie vielfältig das Innere des toten Baums ist. Nicht nur
konnte man Phasen dessen Leben nachvollziehen. Auch, für wie viele andere Arten
wie Pilze und Insekten das Totholz ein Habitat bietet. Furrer fotografierte
seine Entdeckungen und erstellte ein einzigartiges Fotobuch: «Poesie des
Vergehens – vom vielfältigen Leben einer toten Fichte», kürzlich erschienen
beim Haupt-Verlag.
Fotografie und Wissenschaft
Experten und
Expertinnen der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und
Landschaft (WSL) ergänzten Furrers Bilder mit Wissen über die einzelnen
Holzbewohner. Und zu den Ereignissen im Leben des toten Baums, die ihre Spuren
hinterlassen haben, im Inneren wie im Äusseren. Eine davon ist Rita Bütler,
spezialisiert in der Wald-Ökologie und Wald-Biodiversität. Mit ihr sprach das
Baublatt über den «Brotbaum der Schweizer Holzwirtschaft». Diesen Namen erhielt
die Fichte wegen ihrer grossen Bedeutung für die Bau- und Papierbranche. Sie
ist auch die mit Abstand häufigste Baumart in hierzulande.
«Durch trockene Sommer haben im Moment mehr Totholz, als auch schon», erklärt Bütler. Für sie ein wichtigeres Thema sind alte Bäume, die Totholz oder andere Baummikrohabitate auf sich tragen, zum Beispiel einen abgestorbenen Ast oder eine Höhle. Sie bieten Lebensraum für Vögel, Amphibien, Reptilien und Säugetiere. Aber natürlich auch Insekten und Pilze. «Sehr dicke, alte Bäume sollte man gar nicht fällen, in der Schweiz sieht man kaum noch welche. Man könnte sie einzeln stehen lassen, in Flächen von einem bis zwei Hektaren oder als grössere Naturreservate von 20 bis 100 Hektaren, in denen das Holz seinen ganzen Lebenszyklus durchläuft.» Totholz, ob liegend oder an einem noch stehenden Baum, ist enorm wichtig für das Ökosystem Wald. Ohne dieses könnten der Forst und seine unzähligen grösseren und Kleinstlebewesen nicht existieren.
”Sehr dicke, alte Bäume sollte man gar nicht fällen, in der Schweiz sieht man kaum noch welche.
Rita Bütler
Quelle: Sam V. Furrer
Buchensprössling auf der toten Fichte.
Dass es im Mittelland so grosse Fichtenbestände gibt, ist menschengemacht. Mitte des 18. Jahrhunderts gab es eine Holzkrise wegen der Übernutzung der Wälder. Überschwemmungen und Murgänge waren die Folge, der Wald musste aufgeforstet werden. Die anspruchslose und wüchsige Fichte eignete sich sehr gut dafür. Im Mittelland wurde sie als standortfremde Baumart angepflanzt. «Seit damals haben wir in der Schweiz ein sehr gutes Waldgesetz», sagt Bütler. «Es verhindert noch heute den Raubbau am Wald. Und wenn gerodet wird, muss die gleiche Fläche wieder angepflanzt werden.»
Trockenheitstoleranter Baum gesucht
Trotz Wiederaufforstung: Der Fichte geht es nicht gut, ihr Bestand im Mittelland hat in den letzten 20 Jahren um ein Drittel abgenommen. Und das hat nicht nur mit ihrer überwältigenden Bedeutung als Energie- und Bauholz zu tun. Auch der Klimawandel bekommt der Baumart, die ein flaches Wurzelsystem hat und nicht genügend Wasser findet, schlecht. «Was, wenn es im Mittelland keine Fichten mehr gibt», fragt Bütler. «Das ist ein grosses Thema, vor allem, weil die Holzindustrie so sehr darauf baut.» Sie glaubt, die Fichte werde sich in ihren angestammten Lebensraum in der montanen und subalpinen Zone, von zirka 1000 müM bis zur Waldgrenze zurückziehen. Und mit ihr die Lebewesen, die sie als Habitat nutzen, ob lebend oder als Totholz.
Es braucht also Ersatzbäume. In Deutschland habe man mit der Buche in der Holzindustrie schon Fortschritte verzeichnen können, in der Schweiz sei es noch ein grosses Fragezeichen, wie es weitergeht. Im Mittelland brauche die Schweiz einen Wald aus trockenheitstoleranten Baumarten. «Es finden gerade Tests statt mit 18 Baumarten, deren Samen man aus südlicheren Gefilden gar den USA holte. Deren genetisches Spektrum zeigt bereits, ob und wo die Bäume gut gedeihen.» Eine Art, die besonders im Fokus der Forscher steht ist die Douglasie, die in Nordamerika beheimatet ist. Am besten seien jedoch Mischbestände. «Da ist das Risiko am besten verteilt.»
”Was, wenn es im Mittelland keine Fichten mehr gibt? - Das ist ein grosses Thema, vor allem, weil die Holzindustrie so sehr darauf baut.
Rita Bütler
Quelle: Sam V. Furrer
Ein Hallimaschpilz auf der toten Fichte.
Schade findet Bütler, wenn das Holz einfach verbrannt wird. 44 Prozent der Jahresernte an Holz wird derzeit als Energieholz genutzt und mit den Pellets- und Schnitzelheizungen wird es immer mehr – so viel, dass in den Wäldern fast zu wenig da ist. Die restlichen 46 Prozent gehen an den Bau oder in die Industrie. «Es gibt einen Aktionsplan Holz vom Bundesamt für Umwelt, dass man mehr mit Holz statt Beton oder Stahl bauen solle.» Dr. Bütler würde es freuen, wenn diese Initiative umgesetzt wird: «So steht und dient das Holz lange als Holubau und das ist nachhaltig.» Bütler streift gerne durch die letzten Naturwälder Europas. Als Naturwälder bezeichnet man Forste, die seit mindestens 100 Jahren nicht mehr bewirtschaftet wurden. Sie machen weniger als zwei Prozent der gesamten Waldfläche Europas aus und befinden sich hauptsächlich in den Karpaten, Rumänien oder Finland.
Ein Nachruf auf die Fichte
Der Verlust der Ficht wäre ein Drama: «Gibt es keinen natürlichen Wald mehr, können wir nicht herausfinden, wie der Wald funktioniert. Das ist gerade im Zusammenhang mit Klimawandel wichtig. Die letzten Naturwälder muss man unbedingt schützen», appelliert Bütler. In der Schweiz gibt es übrigens auch einen angehenden Naturwald, und zwar im Sihltal beim Zürichsee. Seit den 80er-Jahren wird er nicht mehr genutzt und kann sich zurückentwickeln. «Man fand darin sogar wieder ausgestorben geglaubte Pilze.» Bei einem kantonsübergreifenden Projekt sollen zehn Prozent aller Schweizer Wälder zu Reservaten werden – dies bis bis 2030.
In ein paar Jahren würde Sam V. Furrer wohl keine
tote Fichte mehr an seinem Strand finden. Insofern ist sein Buch ein zwar
verfrühter, aber sehr ausführlicher und mit Liebe zum Detail geprägter Nachruf
auf den Baum, der die Schweizer Wirtschaft wie kein anderer prägte. Das hat der
Brotbaum der Nation verdient.
Buchtipp
Poesie des Vergehens - Vom vielfältigen Leben einer toten Fichte
Sam V. Furrer, WSL Hauptverlag, 120 Bilder, 208 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-258-08373-5, Preis 59 Franken 90
Quelle: Sam V. Furrer
Ein Hallimaschpilz auf der toten Fichte.
Quelle: Sam V. Furrer
Eiskristalle auf der toten Fichte.