Denkmalschutz: Halle von Frei Otto wird gerettet
Einer Halle des Pritzker-Preisträgers Frei Otto hätte wegen hoher Sanierungskosten und fehlendem Nutzungskonzept beinahe die Abrissbagger gedroht. Proteste retteten die Halle. Das fast vergessene Architekturjuwel wird wieder aus dem Dornröschenschlaf geweckt.
Die schwer in die Jahre gekommene Multihalle in Mannheim (D) stand kurz vor dem Abriss. Hinter dem wenig spektakulären Namen verbirgt sich allerdings ein Kleinod der Architekturgeschichte. Unumstritten war sie nie. Sie liege wie ein «gestrandeter Wal» in der Landschaft, fanden die einen, andere rühmten sie als die «perfekte Seifenblase, die man davor bewahrt hat zu platzen».
Kein geringerer als der Architekt Frei Otto (1925-2015), berühmt geworden unter anderem durch seine spektakuläre gläserne Dachkonstruktion für dasMünchner Olympiastadionvon 1972, hat das gewagt gewölbte Leichtbaudach entworfen. Die Halle wurde 1975 als Blumenhalle für die Bundesgartenschau errichtet. Sie ist bis heute die grösste freitragende Holzgitterschalenkonstruktion der Welt.
Damals konnte man die für die Stabilität nötigen Komponenten derartiger Konstruktionen noch nicht ausreichend berechnen. Für Otto kein Hinderungsgrund. Das Münchner Olympiastadion konnte man ja ebenfalls mit den Mitteln der Zeit kaum rechnen. Dort behalf Otto sich, indem er an zahlreichen Modellen mit Hilfe von Seifenblasenflüssigkeit die optimale Krümmung der gläsernen Dachflächen ausprobierte. Das Dach tut bekanntlich bis heute seinen Dienst.
Der Auftrag für die Multihalle erfolgte recht kurzfristig. Ursprünglich war er an Carlfried Mutschler gegangen, einen Mannheimer Architekten. Ihm hatte ein Dach aus Schirmen vorgeschwebt, das sich mit Hilfe von Luftballonen über dem Publikum erheben sollte.
Baurechtliche Bedenken brachten die Idee zu Fall. Die Ballone gingen nie in die Luft. Also holte Mutschler Otto ins Boot. Otto sollte das Dach konstruieren, Mutschler wollte für die Einbauten aus Beton sorgen. Es sollte ein leichtes Dach werden, das sich in Wellen in die Landschaft einpasste.
Quelle: Alexandra von Ascheraden
Die Multihalle in Mannheim ist bis heute die grösste freitragende Holzgitterschalenkonstruktion der Welt.
Kettennetz zur Formfindung
Otto kam das gerade recht. Er leitete seit 1964 das Institut für leichte Flächentragwerke an der Technischen Hochschule Stuttgart und arbeitete dort an Stabwerkskuppeln. Die Multihalle gab ihm die Chance, seine Forschungsergebnisse im grossen Massstab anzuwenden und zu überprüfen. Wie immer bei seinen Arbeiten stellte er zahlreiche Modelle her, um Details zu studieren und die ideale Lösung zu finden.
Er fand sie, indem er ein Netz aus feinen Ketten schuf, das ihm als hängendes Modell durch das Eigengewicht die Dachform lieferte. Das ergab die Form der künftigen Schale, allerdings auf den Kopf gestellt. Diese wurde stereofotogrammetrisch vermessen, das Kräftegleichgewicht nochmals durchgerechnet und dann Knoten für Knoten das Ganze umgekehrt und so die Dachform gewonnen. Aus dem zugbeanspruchten Hängemodell entwickelte Frei also im Prinzip durch Umkehrung das druckbeanspruchte Schalenmodell des Dachs.
Gerüste heben in Form
Frei Ottos Lösung bestand schliesslich darin, gewöhnliche Dachlatten gitterförmig übereinander zu legen und anfangs lediglich leicht zu verschrauben. Dann wurden sie in Form gehoben. Dazu wurden darunter liegende Gerüsttürme in vielen Teilschritten von Gabelstaplern angehoben bis die Schale ihre anvisierte Gestalt erreicht hatte. Nach dem Anheben wurden zuerst die Schalenränder befestigt. Sie sind die einzigen Fixpunkte in der Konstruktion.
Die verbauten Latten haben einen Querschnitt von nur fünf mal fünf Zentimetern. Zu schwach, um bei einer Spannweite von über achtzig Metern ausreichend Standsicherheit zu gewähren. Stärker aber durften sie nicht sein, sonst hätten sie sich nicht ausreichend biegen lassen.
Quelle: Daniel Lukac
Die Schale ist mit einem Gewebe eingedeckt, das wetterbeständig beschichtet ist. Die Bahnen wurden thermisch verschweisst und sind über Klammern mit den darunter liegenden Latten verbunden.
Das Gitterwerk würde auf Belastungen durch Wind oder Schnee mit merklichen Änderungen der Form reagieren, hätte Otto nicht eine Lösung gefunden, die Knoten zu versteifen und diagonale Zugglieder zu integrieren. Er ging damit bis an die Grenze der Materialeigenschaften.
Die Lösung bestand schliesslich in einer Kombination von zwei übereinander liegenden Gittern, die mit Langlöchern versehen waren. Durch diese Löcher wurden die Latten anfangs einfach nur locker miteinander verbunden, so liessen sie sich während des Verformungsprozesses im Aufbau noch verschieben. Erst nach Erreichen der endgültigen Form wurden sie fest verschraubt. Das sorgte für die nötige Schubsteifigkeit.
Wassergefüllte Mülltonnen zum Test
Die wie eine Hügellandschaft gewellte Dachkonstruktion musste ihre Belastungsfähigkeit auf sehr pragmatische Art nachweisen. Architektin Tatjana Dürr, die Mannheimer Referentin für Baukultur, die das Baublatt durch die Halle führt, berichtet: «Damals hatte man in Mannheim gerade von Blechmülltonnen auf Plastik umgestellt.
Also liess der zuständige Prüfingenieur 200 blecherne Mülltonnen kommen, füllte sie mit Wasser und hängte sie an die Gitterknoten. Jede wog 90 Kilogramm. Das war deutlich mehr als die Schneelast, die man für Mannheim für realistisch betrachtete. Die Konstruktion hielt.» Das bestätigte die Berechnungen überraschend genau. Das Dach gab unter der Last exakt 79 Millimeter statt der berechneten 80 nach.
Quelle: ZKM Karlsruhe
Multihalle von oben. Die «Zeit» bezeichnete sie in den 1970er-Jahren wenig schmeichelhaft einst als Kreuzung aus «Walfisch und Amöbe».
Baugenehmigung lief 1978 aus
Die Multihalle war, wie vieles an der Bundesgartenschau, als temporäres Gebäude konzipiert. Ihre Baugenehmigung galt nur bis 1977. Dürr: «Man prüfte pflichtgemäss die Stabilität im regelmässigen Turnus und dann durfte die Halle weitere zehn Jahre stehen bleiben.» In ihr fanden Parteitage statt, Rassenkatzenausstellungen und türkische Hochzeiten im grossen Stil.
Andreas Schenk vom Mannheimer Stadtarchiv «Marchivum» erinnert sich, dass man über Jahrzehnte immer wieder versuchte, die Halle dauerhaft nutzbar zu machen: «Vom Umbau zum Schwimmbad über eine Eisbahn bis hin zu Disco oder Kegelbahn war alles irgendwann diskutiert worden.
Der Umbau wäre jeweils so teuer gekommen, dass es sich nicht gerechnet hätte. So war die Halle zuletzt verwaist. Ab und zu ein Trödelmarkt oder eine Mittelalterausstellung, mehr spielte sich dort nicht ab.» Ein echtes Nutzungskonzept fand man nicht.
Dazu muss man wissen: Die materialminimierte Konstruktion der Halle bringt eine Palette an Nachteilen mit sich. Die Akustik ist herzzerreissend schlecht – was AC/DC nicht davon abhielt, dort 1976 ein Konzert zu geben. Die Halle ist kaum heizbar und bietet im Sommer keinen Schutz gegen die Hitze.
Zudem liegt sie in einer Mannheimer Besonderheit, einem von zwei aus der Bundesgartenschau entstandenen öffentlichen Parks, die man bis heute nur gegen Eintrittsgebühr besuchen kann. Wer also eine Veranstaltung besuchen will, muss auch die Gebühr für den Park entrichten.
Quelle: Carmen Mundorff, AKBW
Die Multihalle wurde an der Architekturbiennale in Venedig thematisiert - auch das rettete sie vor dem Abriss, da die Fachwelt wieder auf sie aufmerksam wurde.
Gerüstturm stützt Kuppel notdürftig
So überdauerte die Halle die Jahrzehnte im Dornröschenschlaf. 1999 zeigten sich erste Verformungen im Holzgittertragwerk. Die Begutachtungen erfolgten seitdem jährlich. 2008 wurde ein Gerüstturm errichtet, der die Kuppel von innen abstützt.
«Die höchste Belastung muss das Dach am flachsten und höchsten Punkt aushalten. Genau dort würde es heute vielleicht nachgeben, wenn wir es nicht abstützen würden», so Dürr. Das Gerüst steht dort bis heute. Auch die tiefen Randbalken, über die bei Regen die Wassermassen des Daches ablaufen, sind stark in Mitleidenschaft gezogen. 2012 musste die Halle endgültig geschlossen werden. Das sollte eigentlich das Todesurteil einläuten.
Die Stadt beauftragte Gutachter. Die hielten fest: «Die materialminimierte Konstruktion der Multihalle bedingt, dass jede Schwächung der Bauteile das gesamte Tragwerk beeinflusst. Aufgrund der über die ursprüngliche Planung weit hinausgehenden Standzeit und der Verschlechterung des Materialzustands der einzelnen Bauteile sind Verschiebungen und Verformungen eingetreten. Die Kraftverläufe in dem fragilen statischen System haben sich verändert und folgen nicht mehr der auf dem Hängemodell Frei Ottos begründeten idealen Form.»
Das Schadensbild sei sehr vielfältig und erstrecke sich über alle Bauteile, etwa die Randträger aus Holz, die Tellerfedern zur Verbindung der Holzlatten, die Holzlatten des Gittertragwerks, die Dachmembran, die Fundamentierung. Kurz: Entweder man fasste eine Generalsanierung ist Auge, oder man liess es gleich und begann mit dem Abriss. Die Generalsanierung sollte an die zwölf Millionen Euro kosten, der Abriss eine.
Der Gemeinderat war hin- und hergerissen. Einerseits fehlte ein Nutzungskonzept, andererseits war die Halle, wie man ja durchaus wusste, etwas architektonisch Einmaliges und stand seit 1998 unter Denkmalschutz.
Quelle: Alexandra von Ascheraden
1999 zeigten sich erste Verformungen im Holzgittertragwerk. Die Begutachtungen erfolgten seitdem jährlich. 2008 wurde ein Gerüstturm errichtet, der die Kuppel von innen abstützt.
Abriss droht
So fällte der Gemeinderat 2016 den Beschluss, dass das finanzielle Risiko für eine Generalsanierung durch die Stadt weder tragbar noch zumutbar sei. Und, so der Gemeinderat weiter, «hinzu kommt, dass neben dem Erhalt des architektonischen Erbes von keiner Seite eine überzeugende Nutzungskonzeption vorgelegt werden konnte. (…) Kann durch privat initiiertes Crowdfunding, Sponsoring etc. sowie Zuschüsse der Denkmalpflege eine Finanzierung (...) nicht dargestellt werden, bleibt nur der Antrag auf Dokumentation und Rückbau.»
Als dieser Beschluss in der Presse gestreut wurde, kam es zum Aufruhr in der Architekturwelt. Namhafte Architekten forderten energisch den Erhalt. Tatjana Dürr sagt dazu im Rückblick: «Der Entscheid zum Abriss kam im Grunde im richtigen Moment. Gerade erst 2015 hatte Frei Otto posthum die weltweit wichtigste Auszeichnung für Architekten, den Pritzker-Preis, erhalten. Und nun wollte Mannheim eines seiner Werke abreissen?
Die Empörung kochte hoch, und das rettete die Halle.» Hilfreich war auch, die Halle an der 16. Architekturbiennale thematisiert worden war und so plötzlich dieAufmerksamkeit der Fachwelterhielt.Vom Abriss wollte der Gemeinderat dann doch nichts mehr wissen.
Öffnung nur mit Ausnahmegenehmigung
Und ein Konzept zur Wiederbelebung gibt es dank Dürrs Beharrlichkeit nun auch. Sie erläutert: «Wir haben 2018 einen Architektenwettbewerb zum Nutzungskonzept ausgeschrieben. Die Konzepte der drei Preisträger werden momentan abgeglichen. Es wird eine variable Nutzung mit Co-Working, Werkstätten und Veranstaltungen geben.» Die Architektin engagiert sich stark dafür, die Halle bereits jetzt zu beleben, und auszuprobieren, was dort möglich ist. «Anfangs hatten wir Schwierigkeiten, Kulturschaffende hierher zu holen. Jetzt wollen alle wiederkommen.»
Sie kämpft eher damit, dass sie eine Ausnahmegenehmigung für die Durchführung jeder einzelnen Veranstaltung benötigt, da die Halle ja gesperrt ist. «Es gibt ja keine gültige Baugenehmigung mehr. Niederschwellige Projekte können wir erst nach der Sanierung durchführen. Frühestens 2023, wenn das Dach wieder stabilisiert ist.»
Zudem wird überlegt, ob die Halle nicht einen separaten Eingang bekommen kann, so dass nicht mehr zwingend der Parkeintritt fällig wird, um eine Veranstaltung zu besuchen. 2019 hat der Bund übrigens Unterstützung zugesagt. Statt der erhoffen zehn Millionen nur fünf, aber immerhin. Den Rest der Finanzierung übernimmt die Stadt. Von Abriss ist längst keine Rede mehr.
Frei Otto – Denken durch Modelle
Frei Otto bezeichnete sich selbst immer wieder als Anti-Architekt. Die formale zeitgenössische Architektur interessierte ihn nicht. Der Architekt orientierte sich gern an den Formen der Natur und versuchte, mit möglichst wenig Material auszukommen. 1961 gründet er an der Technischen Hochschule Berlin mit dem Biologen Johann-Gerhard Helmcke die Forschungsgruppe «Biologie und Bauen», in die er auch Mediziner und Paläontologen holte, um Konstruktionen zu erforschen, die auf biologischen Prinzipien basierten, etwa dem Skelett von Kieselalgen oder der Hutform von Pilzen.
Architektur hatte für ihn durch geeignete konstruktive Bedingungen leichte und anpassungsfähige Räume für die menschliche Interaktion zu schaffen. So schreibt er beispielsweise 1996 in «Architektur-Natur»: «Weniger ist mehr, dieses Wort faszinierte mich: Weniger Häuser, weniger Material, weniger Beton und weniger Energie verbrauchen, aber menschlich bauen unter Verwendung dessen, was vorhanden ist: Erde, Wasser Luft. Naturnah bauen und aus wenig viel machen.» Seine Bauten sollten den Bedürfnissen der Menschen dienen und anpassbar sein oder leicht demontiert werden können, wenn sich die Bedürfnisse änderten.
Frei Otto entwickelte Konstruktionen, die sich unter den Bedingungen seiner Zeit mathematisch nur annäherungsweise und unter grossen Schwierigkeiten rechnen liessen. Er hielt es wie Antonio Gaudi und sicherte seine Vorgehensweise durch zahlreiche Funktionsmodelle ab.
Mithilfe der Modelle versuchte er, Kraft- und Spannungsverläufe zu verstehen und Prozesse nachzuvollziehen, die das Material zur Formbildung durchlief. Er liess Seifenblasenflüssigkeit über Drahtgestelle aufspannen, um die optimalen Kurven einer Fläche zu ermitteln, spannte Membranen und Seilnetze und versuchte Hängekonstruktionen mit Hilfe von Kettennetzen zu optimieren.
Dabei galt sein Interesse zwar auch dem konkreten Bauprojekt, seine Mission aber war die systematische Erforschung von Konstruktionsprinzipien, um daraus weithin gültige Lösungen abzuleiten. Er selbst sah seine Rolle zunehmend nicht als die des Architekten, sondern des Beraters, der weiterhalf, wenn Architekt und Ingenieur an Grenzen stiessen. 2015 erhielt er den Pritzker-Preis für seine architektonischen Leistungen.(ava)
Quelle: Ingenhoven und Partner Architekten, Düsseldorf, Wikimedia Commons CC BY 2.0
«Naturnah bauen und aus wenig viel machen», lautete das Motto von Frei Otto.
Gebäudekennzahlen
- Überdachte Fläche: 7400 Quadratmeter
- Dachfläche (wegen der Wölbungen): 9500 Quadratmeter
- Gesamtlänge des Gebäudes: 160 Meter
- Breite des Gebäudes: 115 Meter
- Höchste Kuppelhöhe über Fussboden: 20 Meter
- Grösste Querspannweite: 60 Meter
- Grösste Längsspannweite: 85 Meter
- Fassungsvermögen: 2500 Personen