08:28 BAUPRAXIS

CO2-Speicherung im Beton: Richtig Gas geben bei der Dekarbonisierung

Geschrieben von: Stefan Schmid (sts)
Teaserbild-Quelle: Stefan Schmid

Die Versteinerung des klimaschädlichen Kohlendioxids im Betongranulat von aufbereitetem Abbruchmaterial hat für die Bauindustrie grosses Potenzial. Ein Grossteil der CO2-Emissionen liesse sich kompensieren. Das Verfahren eines ETH-Spin-offs verbessert sogar die Materialeigenschaften des Betons. Auf einem der schweizweit grössten Recyclingwerke wird die Anlage getestet.

Bagger

Quelle: Kibag Bauleistungen AG

Direkt von der Aufbereitungsanlage der Kibag befüllt der Radlader den Container mit 15 Kubikmeter Betongranulat.

Die Konzentration an Kohlendioxid in der Atmosphäre erhöhte sich seit den ersten Industrialisierungswellen im vorletzten Jahrhundert stetig. Die Klimakrise ist ein Fakt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Erderwärmung sind längst bekannt. Über die Folgen der Klimakrise ist sich auch die Wirtschaft im Klaren. Das revidierte CO2-Gesetz, das im Juni zur Abstimmung gelangt, findet breite Unterstützung in der Wirtschaft. Der Pariser Klimavertrag verpflichtet die Schweiz zudem, bis 2030 die Emissionen um die Hälfte zu senken. Mit zwei Stossrichtungen ist die Dekarbonatisierung daher wichtiger Bestandteil der Massnahmen. Einerseits heisst das, weniger CO2 in die Atmosphäre zu blasen, anderseits das schädliche Klimagas zu binden. Den zweiten Weg beschreitet die Neustark AG mit einem neuen Verfahren.

«Es bestand von Anfang an der Anspruch, an Zukunftstechnologien zu forschen, um CO2 speichern zu können. Gleichzeitig wollten wir Lösungen erarbeiten, die sich heute schon einsetzen lassen», sagt Valentin Gutknecht, Mitgründer und CEO des ETH-Spin-offs. Dabei sind Dekarbonatisierung und Karbonatisierung sozusagen die zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Begriffe zeigen, wie naheliegend die Lösung des Jungunternehmens für die Bauindustrie ist, handelt es sich beim Prozess der natürlichen Karbonatisierung doch um einen gängigen Begriff der Bauchemie. Das Phänomen ist schon lange bekannt und auch gut erforscht.

Altes Phänomen neu gedacht

Auf dem Kibag-Areal in Regensdorf ZH, einem der schweizweit grössten Recyclingwerke für Bauschutt und Abbruchmaterial, steht seit letzten Sommer die Anlage der Neustark AG, es ist weltweit die erste und einzige ihrer Art. Mit der mobilen Pilotanlage, bestehend aus drei Containern, soll das Verfahren unter realen Bedingungen im Produktionsprozess für Frischbeton getestet werden. Zum einen geht es um betriebswirtschaftliche Aspekte der Prozessgestaltung, zum anderen um die Optimierung der Anlage für die CO2-Speicherung. Das Neustark-Verfahren beschleunigt den Mineralisierungsprozess massiv und vervielfacht dadurch die durchschnittliche CO2-Aufnahme. Zentraler Prozessschritt des Verfahrens: die Karbonatisierungsfront.

Bedingungen sind hochreaktiv

Dazu wird einer der beiden Container mit 15 Kubikmetern aufbereitetem Betongranulat bis zur Hälfte befüllt und danach luftdicht verschlossen. In einem zweiten Schritt wird CO2 in den Behälter gepumpt. Die CO2-Beflutung schafft hochreaktive Bedingungen, sodass bei Kleinstpartikeln aus Zement der Mineralisierungsprozess in Gang kommt. Dabei wird Calciumhydroxid unter Bindung von CO2 in Calciumcarbonat umgewandelt. Es ist die Umkehr des chemischen Prozesses, wie er bei der Zementherstellung abläuft.

Ventil

Quelle: Stefan Schmid

Der chemische Prozess setzt physikalische Kräfte in Gang, die mit einem Druckausgleichsystem unter Kontrolle gehalten werden müssen.

Aufgrund der chemischen Reaktion im Behälter entwickeln sich gewaltige physikalische Kräfte, weil das Gasvolumen viel grösser ist als der entstehende Kalkstein. Zum Vergleich: CO2 vom Volumen eines Luftballons wird in ein paar Gramm Kalkstein umgewandelt. Ein Vakuumbrecher regelt daher den Unterdruck im Behälter. Über ein Injektionssystem im Innern wird sichergestellt, dass die gesamte Masse des Granulats durchflutet wird und das Gas den Weg zu den Kleinstpartikeln findet. Dabei gilt: Je feiner das Granulat ist, desto grösser ist gesamthaft die reaktive Oberfläche.

Klimaneutralen Beton herstellen

Zudem werden kleinste Zementpartikel von der Karbonatisierungsfront schneller durchdrungen als grössere Brocken. Der Druck für die Zufuhr von CO2 und die Siebkurve des Granulats sind daher zwei wichtige Regelgrössen. Ein bis zwei Stunden dauert es, bis die Karbonatisierungsfront die Kleinstpartikel durchdrungen hat. Dann schwächt sich die Reaktion ab, doch ist in dieser Zeit bereits ein Sättigungsgrad von rund 80 Prozent erreicht. Grössere Zementbrocken sind noch nicht vollständig in Kalkstein umgewandelt. Bis eine maximale Sättigung resultiert, dauert der Prozess entsprechend länger. 95 bis 99 Prozent des verwendeten CO2 werden nachgewiesenermassen zu Kalkstein umgewandelt.

Zehn Kilogramm CO2 pro Kubikmeter Frischbeton lassen sich mit dem Verfahren bei der Testanlage speichern. Doch der Effekt kann vervielfacht werden. «Einem Kubikmeter Beton kann schliesslich so viel gespeichertes CO2 zugeführt werden, dass die Emissionen, die mit der Zementproduktion entstehen, komplett rückgängig gemacht werden können. Je nach Betonmischung können dann pro Kubikmeter zwischen 150 und 250 Kilo CO2 gespeichert werden. Damit wäre es dann ein klimaneutraler Beton», sagt Betriebswirt Gutknecht. Nach dem Umwandlungsprozess kann das Granulat zu Frischbeton weiterverarbeitet und danach direkt verbaut werden.

Ausstoss und Speichereffizienz sind für Betonwerke zwei Optimierungsgrössen. Bei 99 Prozent ist der Verlust kleiner, die Kapazität der Anlage aber leicht reduziert. Um die Massenzunahme des Granulats zu messen, steht der Container auf einer Waage. Das Resultat wird durch die Messung des Gasdurchflusses validiert.

Bessere Qualität des Betons

Die Siebkurve des Granulats wurde bisher wenig verändert, für Recyclingbeton liegen die Zuschlagsstoffe oft zwischen 0 bis 16 und 0 bis 22 Millimeter. Allenfalls liesse sich das Granulat feiner brechen, um mehr reaktive Oberfläche zu schaffen. Betonwerke müssen daher ein Optimum finden zwischen dem Aufwand fürs Brechen und der CO2-Speicherung.

Der nach dem Neustark-Verfahren hergestellte Beton entspricht zu 100 Prozent den bestehenden Leistungsnormen. Weil der eingelagerte Kalkstein die Poren schliesst, resultiert sogar eine bessere Qualität des ausgehärteten Betons hinsichtlich Druckfestigkeit. Bei gleichen Eigenschaften kann der Zementgehalt des Betons darüber hinaus in vielen Fällen leicht reduziert werden.

Für die Bauindustrie eröffnet sich mit dem Verfahren die Möglichkeit, die Dekarbonatisierung breitflächig voranzutreiben. Denn allein die Zementproduktion verursacht sieben Prozent der weltweiten CO2-Emissionen oder doppelt so viel wie der gesamte weltweite Flugverkehr. Insgesamt emittiert die Zementproduktion weltweit pro Jahr rund 2,5 Milliarden Tonnen CO2. Laut Schätzungen von Wissenschaftlern könnten bis 2050 jährlich rund 500 Millionen Tonnen CO2 gespeichert werden. «Das Abscheiden von CO2 aus der Luft ist zentral, um sich das im Beton gespeicherte CO2 anrechnen zu lassen», sagt Gutknecht. Was mit dem Neustark-Verfahren im Kleinen beginnt, könnte sich zu einem gigantischen Hebel entwickeln. Denn durch die Einlagerung des Klimagases entsteht zugleich eine sogenannte CO2-Senke. Diese wiederum liesse sich mit CO2-Umweltzertifikaten kombinieren. Und mit Gütesiegel produzierter Neustark-Beton könnte sowohl öffentliche oder private Bauherrschaften veranlassen, mehr für die Dekarbonatisierung zu tun. Auch bei der Immobilienvermarktung könnte das Gütesiegel für die Profilierung des Angebots künftig eine Rolle spielen. Mit der konsequenten Wiederverwertung von Abbruchmaterial können zudem Primärstoffe geschont werden, was insbesondere für Grossagglomerationen wie Zürich gilt. Denn für Betonproduktionsunternehmen wie die Kibag wird es wegen des Widerstands der Bevölkerung immer schwieriger, neue Kiesabbaugebiete zu erschliessen.

«Positive Bilanz»

Durch die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre und die anschliessende Speicherung können sogenannte Negativemissionen und damit Klimapositivität realisiert werden. Beim Gesamteffekt der CO2-Speicherung sind allerdings noch graue Emissionen zu berücksichtigen, die bei der Gasverflüssigung mit Strom, dem Transport sowie dem Betrieb der Anlage entstehen. Drei bis fünf Prozent sind daher pro Tonne eingespartes CO2 in Abzug zu bringen, wie eine Analyse der ETH Zürich ergab. «Es ist aber ganz klar eine positive Bilanz», bekräftigt Gutknecht.

Das verflüssigte CO2 wird künftig von der Abwasserreinigungsanlage Region Bern bezogen, bei der die Neustark AG im April eine Abscheide- und Verflüssigungsanlage in Betrieb nimmt. Das CO2 entsteht dort bei der Biogasanlage durch die Vergärung von Biomasse. Es wird direkt beim Kamin abgefangen, anstatt es in die Atmosphäre entweichen zu lassen.

Stationäre Grossanlagen geplant

Derzeit mineralisiert die mobile Pilotanlage pro Stunde rund 20 Tonnen Betongranulat. Pro Container liegt die Kapazität bei 100 Tonnen pro Tag. Mobile Anlagen könnten nach Optimierungen bei kleinen und mittelgrossen Betonherstellern künftig dauerhaft zum Einsatz kommen. «Der Markt ist bereit dafür. Dann braucht es betriebsspezifisch ideale Lösungen, um den Prozess in bestehende Anlagen von Betonwerken zu integrieren», sagt Gutknecht. Die effizienteste Lösung für die Speicherung von CO2 aber könnten stationäre Grossanlagen sein, indem man den Versteinerungsprozess in Lagersilos ablaufen lässt.

Komplexes Verfahren

Auf die Idee, die Dekarbonatisierung mit neuen Anwendungen zu verbinden, kam Gutknecht als Marketing Manager bei Climeworks, einem Unternehmen, das Lösungen zur Abscheidung von CO2 aus der Luft anbietet. Dabei wurde er sich bewusst, dass die Abscheidung mittels Grossanlagen und die Entsorgung von CO2 in den Untergrund schwierig zu bewerkstelligen ist. Insbesondere, weil dadurch kein direkter wirtschaftlicher Mehrwert entsteht.

Der Ansatz, die CO2-Problematik mit einem wirtschaftlichen Mehrwert beim Abbruchmaterial zu verbinden, konkretisierte sich dann 2017 nach Gesprächen mit Betreibern von Betonwerken. Damals hat sich auch Mitgründer Johannes Tiefenthaler, der an der ETH Maschinenbau und Verfahrenstechnik studierte, im Rahmen seiner Masterarbeit intensiv mit dem Thema befasst. Es war dann nur eine Frage der Zeit, bis sich beider Wege auf dem gemeinsamen Betätigungsfeld kreuzten.

Mit der Firmengründung war auch der selbstgewählte Auftrag klar. «Wir wollten Bewegung in die Sache bringen», sagt Gutknecht beim Gespräch auf dem Kibag-Areal. Operativ tätig ist die Gesellschaft seit 2019, wobei Gutknecht für die kommerziellen und Tiefenthaler für die technischen Belange zuständig ist. Bei der Neustark AG sind mittlerweile neun Mitarbeiter tätig.

Tank

Quelle: Stefan Schmid

Dieser Tank enthält 20 Tonnen flüssiges CO₂. Damit lassen sich 2000 Kubikmeter Frischbeton herstellen.

Die kommerzielle Umsetzung des Gesamtkonzepts in eine mobile Anlage umfasst eine grosse Bandbreite von technischen Herausforderungen wie die Gewinnung und Bereitstellung von Flüssiggas, Betonrezepte sowie verfahrenstechnische und materialwissenschaftliche Aspekte. Schliesslich erfordert auch die CO2-Bilanzierung über den gesamten Prozess einen genauen Nachweis der Mineralisierung und damit des Dekarbonatisierungseffekts.

Internationale Ambitionen

Die Anschubinvestitionen im Umfang von insgesamt «wenigen Millionen Franken» für die Entwicklung der Anlage wurden zu Beginn aus Fördergeldern des Bundesamts für Umwelt sowie der Klimastiftung Schweiz und von Schweizer Privatpersonen finanziert. Es handelt sich um Investments mit langfristiger Perspektive, aber ohne strategische Interessen in der Baubranche. Venture Capital und Fonds sind zurzeit nicht vertreten. Tiefenthaler und Gutknecht halten die Aktienmehrheit am Unternehmen. In der Schweiz kann das Jungunternehmen die Weiterentwicklung der Anlagen sowie der Investitionen in den Marktaufbau aus eigenen Mitteln finanzieren. Mittelfristig hat die Neustark AG aber internationale Ambitionen. Für die Wachstumsfinanzierung und die internationale Marktentwicklung könnte daher laut Gutknecht eine weitere Finanzierungsrunde erforderlich sein. Das Patent für das Verfahren und die Anlagetechnik ist hinterlegt, auch für die Erschliessung der europäischen Märkte. Eine Option gewährt in weiteren Absatzgebieten patenrechtlichen Schutz.

Für die rasche Marktbearbeitung sind laut Gutknecht Partnerschaften mit Unternehmen in anderen Ländern denkbar. Und er betont mit Blick auf die Unternehmensstrategie: «Wir wollen ein von Anbietern unabhängiges Massenprodukt schaffen, das flächendeckend Anwendung finden kann.» Der Erfolg des Geschäftsmodells dürfte auch künftige Generationen interessieren. Denn es könnte sich um eine ökologische Pionierleistung handeln.

Nachgefragt bei Valentin Gutkneckt

Valentin Gutknecht

Quelle: zvg

Valentin Gutknecht ist Mitgründer und CEO der Neustark AG.

Was ist das Ausgangsmaterial für das Granulat?

Der Prozess funktioniert nur mit Abbruchmaterial und nicht mit primären Zuschlagsstoffen. Wir verwenden Zementrückstände und -abfälle, was die Wiederverwendung bei der Betonproduktion vereinfacht. Das Betonwerk kann entscheiden, wie hoch der Anteil von behandeltem Betongranulat im Frischbeton ist. Das ist sehr ortsabhängig. Beispielsweise gibt es in Zürich viel Betonrückbau und wenig Kies. Da macht es Sinn, bei der Betonproduktion höhere Recycling-Anteile zu fahren. In ländlichen Gebieten kann das anders sein. Wir versetzen den Betonrückbau lediglich mit CO2, der Rest ist die Kernkompetenz der Betonwerke.

Zehn Kilogramm CO2 lässt sich mit dem Neustark-Verfahren pro Tonne Frischbeton speichern. Sie gehen von einer Vervielfachung der gespeicherten Menge aus. Wie ist das möglich?

Wir haben eine neue Technologiegeneration entwickelt, die im Labor schon funktioniert und diesen Sommer als Ergänzung zur bestehenden Lösung im grösseren Massstab getestet wird. Es handelt sich um ein zweistufiges Verfahren für die Feinfraktion von Brechsand. Zuerst werden Zementanteile vom Primärsand getrennt. Danach lässt sich mit dem Zement hochreiner Kalk herstellen. Damit kommen wir sehr nahe ans theoretische CO2-Bindepotenzial.

Der Frischbeton ist zwar teurer, aber es gibt Vorteile bei den Materialeigenschaften. Können die Kosten damit ausgeglichen werden?

Die Preise für den Beton machen nicht wir. Die Mehrkosten betreffen vor allem die Handhabung der mobilen Anlage sowie die Abscheidung und den Transport des flüssigen Kohlendioxids. Unser Ziel ist es, stationäre Lösungen möglichst kostenneutral anbieten zu können und Mehrkosten optional über CO2-Zertifikate abzuwälzen.

Kann der Beton überall verwendet werden?

Die Betonsorten, bei denen Neustark zur Anwendung kommen kann, machen bei vielen Werken etwa 80 Prozent des Ausstosses aus. Ein Hochbauprojekt kann damit komplett umgesetzt werden. Der Tiefbau kann in einem zweiten Schritt beliefert werden. Alles, was sich mit Recycling-Beton machen lässt, geht auch mit der Neustark-Lösung.

Kommen künftig vor allem stationäre Anlagen zum Einsatz?

Es ist sehr abhängig vom Betrieb. In vielen Fällen macht eine stationäre Anlage Sinn. Bei Unternehmen mit verschiedenen Standorten kann die mobile Lösung die bessere sein. Mit Varianten können wir die unterschiedlichen Kundensegmente abdecken.

Valentin Gutknecht ist Mitgründer und CEO der Neustark AG.

Geschrieben von

Redaktor Baublatt

Seine Spezialgebiete sind wirtschaftliche Zusammenhänge, die Digitalisierung von Bauverfahren sowie Produkte und Dienstleistungen von Startup-Unternehmen.

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