Carbonbeton: Mit wiederverwendbaren Betonplatten bauen
Seit Mai steht in Winterthur ZH ein spezieller Pavillon, der eine neue Bauweise demonstriert. Für den Bau wurden Betonplatten verwendet, die mit Carbon statt Stahl bewehrt sind. Die an der ZHAW entwickelte CPC-Technologie wurde damit erstmals im Hochbau eingesetzt.
Quelle: Valentin Studerus
Mit dem einstöckigen Pavillon aus dünnen, wiederverwertbaren Carbon-Betonplatten wurde die CPC-Technologie erstmals im Hochbau eingesetzt.
Sieben Jahre ist es her, seit beim Technikum in Winterthur eine unscheinbare kleine Fussgängerbrücke über der Eulach als «leichteste Betonbrücke der Welt» für Furore sorgte. Als erstes Gesamtbauwerk mit Carbonbeton-Platten demonstrierte die Brücke damals, dass es möglich ist, den Betonbedarf für ein vergleichbares Bauwerk mit Stahlbetonplatten auf 25 Prozent und die Bewehrungsmasse auf drei Prozent zu reduzieren. Möglich machte es die an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) entwickelte «Carbon Prestressed Concrete»-Technologie, kurz CPC. Dabei handelt es sich um Betonplatten, die statt mit Stahl mit vorgespanntem Carbon bewehrt sind.
Schöpfer der CPC-Technologie ist Josef Kurath, Forscher und Professor am Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurswesen der ZHAW. Er begann vor über 20 Jahren an der neuen Bauweise zu forschen, die Materialeinsparungen ermöglichen und damit auch weniger CO2-Emissionen verursachen sollte. Kurath leitete dazu 2017 auch das Brückenprojekt an der Eulach, das damals noch im Rahmen einer Forschungszusammenarbeit zwischen der ZHAW und der Firma Silidur AG realisiert worden war. Seither hat sich viel getan. Inzwischen wurden über 200 Bauprojekte mit CPC-Platten realisiert, wie auf der Homepage des 2013 von Kurath mitgegründeten ZHAW-Spin-Offs CPC AG nachzulesen ist. Die Technologie ist zudem weltweit patentrechtlich geschützt.
Zahlreiche Objekte und Bauteile wie Balkone, Brückenbeläge, Fahrradständer, Sprungtürme oder Treppenanlagen wurden erfolgreich mit CPC-Platten erstellt. «Aber auch einige Gesamtbauwerke wurden realisiert», sagt Kurath auf Anfrage. Zum Beispiel die «Bridge to the future», eine Plattform für die Annahme von Aushubmaterial im Holcim-Werk in Hüntwangen. Ein aktuelles Objekt befindet sich zudem in der Stadt Zürich: Der rund 80 Meter lange Mühlesteg über der Limmat, in der Nähe des Central. Dieser wurde Anfang Jahr frisch saniert und ist neu mit einem CPC-Bohlenbelag eingedeckt. Stolz sei man auch auf eine 17 Meter lange Fuss- und Fahrradbrücke in Bülach, so der ZHAW-Professor.
Neue Experimentierstätte
Das jüngste Objekt steht nun im Winterthurer Stadtteil Neuhegi-Grüze: ein kompletter Pavillon. Mit dem 120 Quadratmeter grossen Bau ist die Stadt nach der Eulachbrücke um eine CPC-Experimentierstätte reicher. Denn das im Mai eröffnete «Innovationslabor Grüze» fungiert als Vorzeigeprojekt für den erstmaligen Einsatz wiederverwendbarer Carbonbeton-Platten im Hochbau. Es zeigt auf, dass sich mit der CPC-Bauweise sowohl CO2- als auch Materialeinsparungen von rund 75 Prozent realisieren lassen, während dabei vollständig auf Stahl verzichtet wird. Parallel dazu wird mit dem Pavillonbau auch ein neues Geschäftsmodell von Holcim erprobt, wonach Bauteile ausgeliehen werden, um deren Wiederverwendung zu fördern (Mehr dazu im Kasten «Nachgefragt»).
Das Pavillonprojekt ist das Resultat einer engen Zusammenarbeit zwischen der Stadt Winterthur, der ZHAW, Holcim und Landolt. «Das Innovationslabor zeigt, wie man dank modernster Technologie auch mit Beton CO2-reduziert und mit minimalen Ressourcen in der Masse bauen kann», so Kurath. Auch die Kreislaufwirtschaft wird beim Gebäude gross geschrieben: Dank einem flexiblen Baukastensystem kann der Pavillon bei Bedarf einfach ausgebaut oder in Einzelteile zerlegt und die Platten für ein neues Bauwerk weitergenutzt werden. Während bei einem Rückbau eines herkömmlichen Gebäudes etwa 90 Prozent des Betons nicht direkt wiederverwendet werden kann, ist es beim CPC-Pavillon genau umgekehrt; mit dem «Sharing-Modell» von Holcim lässt sich rund 90 Prozent des Materials erneut nutzen.
Quelle: Valentin Studerus
Mit dem im Mai eröffneten Gebäude ist die Stadt Winterthur um eine CPC-Experimentierstätte reicher. Der Pavillon dient aktuell als Besucherzentrum und Ort der Begegnung mit einem Café.
Quelle: Valentin Studerus
Auf dem Dach des 120 Quadratmeter grossen Pavillons wurde ein Gewächshaus aufgebaut. Neben der Demonstration der CPC-Technologie sollen der umliegende Garten und das begehbare Dach auch ein Experimentierfeld für Themen wie Schwammstadt, Biodiversität oder Solarenergie bieten.
Ermöglicht wird all dies durch die CPC-Technologie: Die im Pavillon verbauten Betonplatten sind mit engmaschigen, vorgespannten Drahtnetzen aus Carbon bewehrt. Diese sind in beide Richtungen vorgespannt und mehrlagig in einem Raster von 15 Millimetern eingebaut. «Dadurch können sie sehr hohe Biegekräfte, Zugkräfte aber auch sehr hohe Schubkräfte in der Plattenebene aufnehmen», erklärt Kurath. Da bei CPC die bei herkömmlichen Stahlbetonplatten für den Korrosionsschutz notwendige Bewehrungsüberdeckung entfällt, sind die Carbonbeton-Platten im Vergleich auch drei bis vier Mal dünner und haben ein geringeres Gewicht. Das aber bei gleicher Tragfähigkeit.
«Dank einer Verankerungslänge der Bewehrung von wenigen Zentimetern ist die Platte bis fast an den Rand voll belastbar.» Weiter sind durch das enge Bewehrungsraster der «endlos» durch die Platten laufenden Drähte beliebige Aussparungen möglich. «Die Carbondrähte bilden beim Schneiden oder Bohren kein Hindernis, wie das bei einer Stahlbewehrung der Fall ist», so Kurath. Ein weiterer Vorteil: Die CPC-Platten können dank der fehlenden Stahlbewehrung nicht korrodieren. Die momentan produzierten Plattenstärken betragen laut dem ZHAW-Forscher 40, respektive 69 Millimeter.
Steckbausystem wie Lego
Mit CPC wird im Grunde der Leichtbau mit Beton möglich. Neben Material- und CO2-Einsparungen sorgt ein flexibles Bausystem ausserdem dafür, dass die Betonplatten einfach wieder in den Kreislauf zurückgeführt werden können. Laut Kurath funktioniert das System vom Prinzip her wie Lego: Die 3,5 x 17 Meter grossen Carbonbeton-Platten werden in einem Wasserstrahl- oder CNC-Werk auf der Grundlage eines digitalen Modelles in beliebige Formstücke geschnitten und im Werk mittels Stecksysteme ohne Stahl oder Kleber zu Bauteilen zusammengesetzt. Danach werden sie zur Baustelle transportiert und millimetergenau montiert. Zuletzt werden die Fugen mit einem hydraulischen Mörtel kraftschlüssig verfüllt. Kurath: «Dabei zentral ist die enorm hohe Präzision der Bauteile, ohne die die kraftschlüssigen Verbindungen nicht funktionieren würden.» Die Genauigkeit der Bauteile auf Längen von acht bis zehn Metern liege im Zehntelmillimeterbereich.
Die Plattenverbindungen sind für das flexible Bausystem zentral. In ihre Entwicklung wurde viel Zeit investiert. Bei der Eulachbrücke wurden die Verbindungen der Tragwerksteile noch mit Beihilfe von Klebeankern in Edelstahl ausgeführt. «Heute können wir die Verbindungen komplett stahl- und kleberfrei ausführen», so Kurath. Dies durch ein Stecksystem, das ähnlich den Passverbindungen im traditionellen Holzbau – zum Beispiel in Japan – funktioniert. «Der Unterschied ist, dass wir beim Schneiden der Plattenverbindungen immer mit Untermass arbeiten und die Passgenauigkeit erst mit dem Verfüllen der Fugen entsteht.» Auf diese Weise würden sich keine Fehler aufsummieren und man könne hochfeste Zug-, Biege- und Querkraftverbindungen herstellen. «Bis zu 80 Prozent der Kräfte, welche die Platte aufnehmen kann, kann über die Verbindung transportiert werden.»
Quelle: Pascale Boschung
Die Plattenverbindungen sind für das flexible CPC-Bausystem zentral und funktioniert ähnlich den Passverbindungen im traditionellen Holzbau, wie er zum Beispiel in Japan angewandt wird.
Quelle: Pascale Boschung
Die Carbonbeton-Platten werden in einem Wasserstrahl- oder CNC-Werk in Formstücke geschnitten und im Werk durch Stecksysteme zu Bauteilen zusammengesetzt. Anschliessend werden diese auf der Baustelle millimetergenau montiert und mit einem hydraulischen Mörtel kraftschlüssig verfüllt.
Tests für Schall- und Brandschutz
Die CPC-Bauweise eignet sich laut dem ZHAW-Forscher für die Haupttragstruktur von Gebäuden, wie tragende Decken und aussteifende Wände oder den Gebäudekern. «Für nichttragende oder nur Druck abtragende Bauteile gibt es effizientere Baumaterialien wie Kalkstein-, Backsteinwände oder Stützen in Beton und Stahl.» Auch in der Fassade sieht Kurath grosses Potenzial, und zwar vom Einfamilienhaus bis zum Hochhaus, von Neubauten über Aufstockungen bis hin zum Umbau. «Dank der entwickelten Verbindungstechnologie können Geschossdecken trotz der transportbedingten Kleinteiligkeit als eine zusammenhängende, aussteifende Scheibe ausgebildet werden.»
Aktuell wird noch an weiteren Optimierungen geforscht. Etwa in den Bereichen Schall- und Brandschutz, die im Hochbau zentral seien. «Beim Schallschutz haben wir die wichtigsten Hürden bereits übersprungen.» Bei Bauteiltests für Deckenaufbauten im eigenen Labor habe man die notwendigen Tritt- und Luftschallanforderungen für den Wohnungsbau erfüllt. Erste Brandtests an CPC-Platten unter Last, die im Rahmen einer Masterarbeit von Fabrizio Cecchettin vor fünf Jahren durchgeführt wurden, seien auch erfolgreich verlaufen. Die ersten Bauteilversuche finden in den nächsten Monaten statt. Zudem werden die Verbindungen weiter verfeinert. «Zentral ist auch, dass der Ingenieur Dimensionierungsgrundlagen erhält.» Auch dies sei in Arbeit, so Kurath.
Logistik noch in Kinderschuhen
Auch die von der CPC AG in Döttingen hergestellten Carbonfasern werden weiterentwickelt. Diese sollen künftig mit biobasiertem, respektive aus nachwachsenden Rohstoffen wie Algen oder Cellulose bestehendem Kohlenstoff produziert werden, der ohne Erdöl auskommt. «Den Rohstoff direkt aus der Luft zu gewinnen, ist technisch heute schon möglich und wäre sogar CO2-negativ». Die CPC AG arbeitet aber auch bereits heute mit industriell gefertigten Carbonfasern, die mit nicht mehr in der Lebensmittelindustrie verwertbarem, altem Frittieröl hergestellt werden.
Weiterentwickelt wird auch die Produktion. «Momentan steckt die CPC-Technologie betreffend Logistik noch stark in den Kinderschuhen», erklärt Kurath. Die Platten werden derzeit im ersten CPC-Werk von Holcim in Deutschland hergestellt. «Dies aufgrund des grossen deutschen Marktes.» Konfiguriert werden die Platten für den Markt hierzulande aber bereits heute teilweise in der Schweiz. Auch der Zusammenbau der Bauteile erfolgt hier. Das Innovationslabor wurde zum Beispiel von der Firma Landolt in ihren Werkhallen in Andelfingen zusammengebaut. «Sobald die Absatzmengen genügend gross sind, sollen auch die Platten in der Schweiz hergestellt werden», so Kurath. Bis dahin kann nun der Pavillon in Winterthur besucht werden, der sowohl eine Experimentierstätte als auch ein Informations- und Veranstaltungszentrum für eine neue Form des nachhaltigen Bauens ist.
Quelle: Pascale Boschung
Das Mobiliar im Pavillon stammt zum Teil aus Abbruchhäusern, so etwa die Wendeltreppe oder der Holzfussboden.
Nachgefragt… bei Christophe Berset
Quelle: zvg
Christophe Berset ist Head of New Solutions bei Holcim Schweiz.
Das Innovationslabor kann bei Bedarf ausgebaut oder einfach zerlegt und für ein anderes Bauwerk wiederverwendet werden. Möglich macht dies ein neues «Sharing-Modell» von Holcim für CPC-Platten. Das Baublatt hat bei Christophe Berset, Head of New Solutions Holcim Schweiz, nachgefragt.
Holcim setzt beim Innovationslabor Grüze erstmals auf das Leihen von Bauteilen. Können Sie das Konzept dahinter genauer erläutern?
Christophe Berset: Wir bieten Bauelemente gegen eine jährliche Gebühr an und streben dabei die Etablierung eines innovativen Geschäftsmodells «Leihen statt Besitzen» an, um die Baustoffe so im Kreislauf zu halten. Unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Lebensdauer von Gebäuden gehen wir davon aus, dass dieses Modell nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch nachhaltig ist. Derzeit arbeiten wir daran, die Details unseres Offerings zu spezifizieren sowie die finanziellen Rahmenbedingungen und Marktpotenziale eingehend zu evaluieren.
Das «Sharing-Modell» eignet sich laut Ihnen besonders für die CPC-Platten, da sich diese in Einzelteile zerlegen und andernorts wieder aufbauen lassen. Wie sieht es damit für herkömmliche Bauteile aus?
Bei der Wiederverwendung nicht modularer, traditioneller Bauteile wie Stahlbeton-Flachdecken ergeben sich mehrere Herausforderungen. Diese müssen zunächst den Anforderungen neuer Gebäude angepasst und zerschnitten werden. Zudem stellen sich logistische Schwierigkeiten, etwa bei der Zwischenlagerung. Obwohl es in diesem Bereich ebenfalls erste Re-Use-Pilotprojekte gibt, sehen wir grösseres Potenzial für eine erfolgreiche Wiederverwendung bei modularen Bauteilen wie CPC.
Was haben Bauherren vom «Sharing-Modell»? Bietet es Vorteile bei der Finanzierung oder Planung?
Die Anwendung eines Leihkonzepts ist für alle Beteiligten Neuland. Grundsätzlich sehen wir die Vorteile für Bauherren vorrangig in einer verbesserten Finanzierbarkeit: Anstatt hoher Anfangsinvestitionen ermöglichen regelmässige Mietgebühren eine Kostenverteilung über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes. Darüber hinaus entfällt für Bauherren die Verantwortung für den Rückbau des Gebäudes und die Wiederaufbereitung der Baumaterialien. (pb)