08:45 BAUPRAXIS

Burgdorfer Eisenbahntag: Hindernisfreie Fahrt für alle

Geschrieben von: Claudia Bertoldi (cb)
Teaserbild-Quelle: Claudia Bertoldi

Fast 13 Milliarden Franken hat das Parlament für den Bahn-Ausbauschritt 2035 und zur Behebung der Engpässe im Eisenbahnnetz genehmigt. Doch andere Arbeiten sind weitaus brisanter: Bis zum 1. Januar 2024 müssen die Bahnhöfe laut dem Behindertengleichstellungsgesetz umgebaut sein.

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Quelle: Claudia Bertoldi

Der Bahnhof Olten ist ein wichtiger Knotenpunkt des Schweizer Bahnnetzes. Die Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetz sind hier bereits umgesetzt.

Weg von der Strasse, dafür verstärkt auf die Schiene – laut den soeben veröffentlichen Verkehrsperspektiven des Bundes für das Jahr 2050, die sich an den Faktoren Zunahme der Verkehrsleistung sowie dem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum orientieren, bleibt dieser Trend weiter bestehen. 

Corona und das verstärkte Homeoffice haben die Prognosen aber etwas verschoben. Trotz dem zunehmenden Alter der Bevölkerung und der weitergehenden Urbanisierung wächst der Verkehr bis 2050 aber weniger stark als bisher angenommen. Die Bevölkerung wächst demnach um 21 Prozent, das Bruttoinlandprodukt (BIP) um 57 Prozent. Im Vergleich zur Bevölkerung wächst der Personenverkehr allerdings unterproportional um nur elf Prozent. Mit dem verstärkten Trend zum Homeoffice werden die Arbeitswege um bis zu 13 Prozent zurückgehen.

Der Güterverkehr hingegen wird voraussichtlich um 31 Prozent steigen. Der Lieferwagenverkehr nimmt dabei um mehr als die Hälfte der Fahrzeugkilometer (53 Prozent) zu, was wahrscheinlich auch dem zunehmenden Lieferservice ans Domizil zu verdanken ist. Der Grossteil der Frachten, 61 Prozent, wird immer noch auf der Strasse transportiert werden. Der Anteil der auf der Schiene transportierten Güter wird sich aber um zwei auf 39 Prozent erhöhen.

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Quelle: Claudia Bertoldi

Laut den Vorgaben des BehiG ausgeführter Bahnhof Olten: Die Rampe ermöglicht den freien Zugang mit Rollstuhl, Kinderwagen oder Gepäck, das Leitsystem erleichtert die Orientierung.

Planmässiger Ausbau des ÖV

Bereits heute ist die Verkehrslage auf den Strassen am Anschlag, tagtäglich werden die Nerven der Kraftfahrer durch Staus strapaziert. Trotz Ausbau wird sich die Situation nicht entscheidend ändern, wenn nicht grosse Verhaltensänderungen bei den Menschen eintreten. Laut Prognosen werden 2040 fast zwei Millionen Menschen pro Tag mit der Bahn fahren, das bedeutet rund 50 Prozent mehr als heute. Auch der Schienengüterverkehr wächst.

Deshalb muss das Schweizer Bahnsystem schrittweise ausgebaut werden. Für den aktuellen Ausbauschritt 2035 (AS 35) hat das Parlament im Jahr 2019 Investitionen von 12,89 Milliarden Franken bewilligt. Damit sollen das Angebot sowohl im Fern- und S-Bahn-Verkehr verdichtet sowie die Strukturen der SBB, Privatbahnen und für den Güterverkehr ausgebaut werden. 

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Quelle: Claudia Bertoldi

Behindertengerechter Bahnhof Burgdorf: Die taktile Leitlinie führt direkt zur hindernisfreien Rampe. An den Handläufen im Bahnhof sind die Hinweise für den Bahnsteig auch in Braille-Schrift aufgebracht.

Zugänglichkeit für jeden Nutzer

Nicht nur in den Ausbau des Streckennetzes und der Strukturen sowie in neues Rollmaterial wird kräftig investiert. Als eine der dringendsten Aufgaben steht momentan die Anpassung der Bahnhöfe an die Vorgaben des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) auf dem Programm. Danach ist der öffentliche Verkehr (ÖV)bis zum 1. Januar 2024 den Bedürfnissen der behinderten und altersbedingt eingeschränkten Reisenden anzupassen.

Das bedeutet, es müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass Massnahmen getroffen werden, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und selbstständig soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und weiterzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Aber auch Passagieren mit viel Gepäck, Kinderwagen oder momentanen körperlichen Beeinträchtigungen bringen bauliche Massnahmen wie die Beseitigung von Hindernissen, ebenerdiges Einsteigen oder Rampen zu den Perrons erhebliche Erleichterungen.

Insgesamt 20 Jahre hatten die Betreiber Zeit, die bestehende Infrastrukturen (Bahnhöfe, Haltestellen) und Fahrzeuge im ÖV anzupassen. Die Zeit läuft Ende 2023 ab. Das Rollmaterial im Regionalverkehr entspricht bereits weitgehend den Anforderungen. Im Fernverkehr muss laut Vorgabe des Bundesamts für Verkehr (BAV) mindestens ein Zug pro Stunde und Richtung über autonom benutzbare Niederflureinstiege verkehren. Bei vielen Bahnhöfen und Bahn-Haltestellen sind aber noch Anpassungen nötig.

«Die Umsetzung des BehiG hat grosse Konsequenzen für die Bahn. Es muss ein diskriminierungsfreier Zugang zum ÖV-Netz gewährleistet sein, welcher das autonome Benutzen aller Anlagen und den Zugang zu Gebäuden für Personen mit eingeschränkter Mobilität ermöglicht», sagt Daniel Wyder, Leiter Infrastruktur der BLS Netz AG, Bern. 

Mit 420 Kilometern Streckenlänge und 118 Bahnhöfen ist die BLS die grösste Schweizer Privatbahn. Rund 50 Millionen Fahrgäste werden jährlich durch sieben Kantone chauffiert. Zudem wickelt das Unternehmen rund30 Prozent des Schweizer Güterverkehrs ab und schickt jährlich 24 000 Güterzüge durch ganz Europa.

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Quelle: Claudia Bertoldi

Zugeinfahrt im Bahnhof Olten.

200 Millionen für Umsetzung

«Die Branche hat in den ersten zehn Jahren das Thema etwas auf die leichte Schulter genommen. Wir haben 2014 den Beschluss gefasst, dass 92 Haltestellen, die nicht konform waren, umgebaut werden müssen», berichtet der Bau- und Wirtschaftsingenieur. 

Zwei Drittel dieser Bahnhöfe hätten aufgrund des Alters und der überholten Technik früher oder später umgebaut werden müssen, deshalb wurde bei der BLS entschieden, alle Bahnhöfe umzubauen. Weitere 30 Haltestellen müssen laut BehiG angepasst werden. Die geschieht mit dem separaten Programm «Kleinprojekte».

Die BLS investiert rund 200 Millionen Franken in die Massnahmen zur Umsetzung des BehiG. Die Gesamtinvestitionen für die Bahnhofprojekte, die zwischen 2014 bis 2025 umgesetzt werden, belaufen sich auf rund 800 Millionen Franken. «Das ist sehr viel Geld für eine relativ kleine Bahn, aber es lohnt sich. Denn es ist auch eine Chance für unsere Branche und den kompletten ÖV, um die Attraktivität zu erhöhen. Man hilft nicht nur Personen mit Beeinträchtigung, sondern auch anderen Reisenden mit Kinderwagen, Koffern oder Velo», so Daniel Wyder. 

Bis 2014 wurden durchschnittlich pro Jahr ein bis zwei BLS-Bahnhöfe um- und ausgebaut. Die Kapazität musste stark erhöht werden, um jetzt durchschnittlich acht Bahnhöfe im Jahr auf den neusten Stand zu bringen.

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Quelle: Claudia Bertoldi

Der Zugang zum nicht behindertengerechten Zug wird mittels Hebebühne sichergestellt. Auch wobauliche Anpassungen nicht verhältnismässig sind, muss eine Ersatzlösung angeboten werden.

Verhältnismässigkeit entscheidend

Neben Massnahmen für ein ebenerdiges Einsteigen, wofür die Perronanlage auf 55 Zentimeter ab Schienenoberkante erhöht werden muss, sind unter anderem die Kundeninformation anzupassen. Das bedeutet, Schriftgrösse, Lautstärke, Infowände, taktile Leitlinien zum und im Bahnhof sowie zu und auf den Perrons, grosse Monitore und Braille-Schrift an den Handläufen und Fahrkartenautomaten sollte bald überall Standard sein. Der Zugang zum Perron muss über eine Rampe oder einen Lift gewährleistet werden.

So wurde unter anderem der Bahnhof Wabern bei Bern im Rahmen des Doppelspurausbaus modernisiert. Der Perron musste auf 220 Meter verlängert und auf 55 Zentimeter Höhe angehoben werden. Für den freien Zugang zum Perron wurden eine Unterführung und ein Lift angelegt und der Bahnhofvorplatz gemeinsam mit der Gemeinde neu gestaltet.

Zudem wurde ein Programm gestartet, in dem die BLS an insgesamt 29 verbleibenden Haltestellen Massnahmen zur Perronerhöhung oder -verlängerung umsetzt. Um Ressourcen zu sparen, werden diese kleineren Projekte von externen Firmen geplant, projektiert und realisiert.

«Es müssen nicht alle Bahnhöfe um jeden Preis umgebaut werden. Hier gilt die Verhältnismässigkeit. Aber der Zugang muss für alle gewährleistet sein», so Daniel Wyder. Unter dem Lead des Verbands öffentlicher Verkehr (VöV) wurde eine Planungshilfe für die Interessenabwägung erstellt. 

Alle arbeiten mit einer Richtlinie

«Das Gesetz spricht von Verhältnismässigkeit und ist keine direkte Richtlinie. Um zu vermeiden, dass eine Flut von Einsprachen auf uns zukommt, haben wir gemeinsam mit anderen Partnern der Branche eine Richtlinie mit Kriterien er-arbeitet, die von allen eingehalten und berücksichtigt werden müssen, um eine einheitliche Ausführung zu ermöglichen.» 

Alle Bahnen richten sich nach dieser Richtlinie, die vom Bund und den Behindertenverbänden akzeptiert wird. Die Planungshilfe liefert einen Vergleich zu anderen Stationen in der Schweiz und dient als Argumentationshilfe, wenn an Haltestellen und Bahnhöfen keine oder nur teilweise bauliche Massnahmen realisiert werden.

Gleiche Anforderungen für alle

Bei der Kategorisierung der Bahnhöfe wurden die vier Kategorien A bis D festgelegt. Beachtet werden dabei unter anderem die Zugfrequenzen, die Anzahl der Ein- und Ausstiege, das eventuelle Vorhandensein und die Nähe spezifischer Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, von Alters- und Pflegeheimen oder Spitälern sowie die Bedeutung als Umsteigepunkt für den ÖV.

An den 1722 Schweizer Bahnhöfen werden laut Angaben des BLS täglich rund 4,4 Millionen Ein- und Ausstiege registriert. An gut einem Viertel dieser Bahnhöfe der Kategorie A konzentrieren sich rund 86 Prozent des Passagieraufkommens. An über der Hälfte der Bahnhöfe steigen allerdings nur zehn Prozent der Passagieren ein oder aus. 

Dennoch sind die Anforderungen an alle Stationen gleich. «Müssen seitens der Betreiber keine baulichen Massnahmen ergriffen werden, sind Ersatzlösungen anzubieten. Dazu gehören die Hilfestellung durch das Personal vor Ort oder auch ein mobiler Transport zur nächsten Haltestelle», erklärt Wyder.

72 der 115 BLS-Bahnhöfe sind bereits barrierefrei umgebaut. Sie werden von rund 80 Prozent der Fahrgäste frequentiert. Die Bahnhöfe Boltigen, Madiswil, Zollbrück, Brenzikofen, Biberist Ost und Gerlafingen sind bereits im Umbau und werden dieses Jahr fertiggestellt. 

In Bau sind die Bahnhöfe Kirchberg-Alchenflüh und Erlenbach im Simmental. Sie sollen gemeinsam mit Burgdorf Buchmatt und Gutenburg, beide momentan in Planung, bis Ende 2022 den Anforderungen des BehiG angepasst werden. 

Ressourcen fehlen

Vor allem auf der Bahnstrecke Solothurn-Moutier bestehe noch Verspätung bei der Anpassung der Bahnhöfe ans BehiG. «Wir werden die Umsetzung bis Ende 2023 nicht ganz schaffen. Aber 85 Prozent der Fahrgäste sind garantiert BehiG-konform unterwegs», betont Daniel Wyder. Für die weiteren Bahnhofsumbauten sei die Finanzierung bereits bewilligt.

 «Die grösste Herausforderung sind die Ressourcen. Der Druck nimmt in den letzten Jahren merkbar zu. Dies betrifft die Planung sowie die Genehmigung seitens der Behörden. Aufgrund der hohen Anzahl der Projekte kommen die Mitarbeiter kaum noch nach, überall kommt es zu Verzögerungen.»

«Wir sehen das BehiG als Chance für den öffentlichen Verkehr. Der ebenerdige Einstieg und hindernisfreie Zugang nützen allen Fahrgästen. Die Bahnhöfe werden dem neusten Stand der Technik angepasst und erneuert – das macht das Bahnfahren für alle Nutzer attraktiver», betont Wyder.

Geschrieben von

Ehemalige Redaktorin Baublatt

Claudia Bertoldi war von April 2015 bis April 2022 als Redaktorin beim Baublatt tätig. Ihre Spezialgebiete waren Architektur- und Technikthemen.

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