Buchtipp „Törten“: Abgründe in Gropius‘ Architekturikone
Walter Gropius’ Arbeitersiedlung Törten im deutschen Dessau ist nicht nur eine Architekturikone, sondern auch Schauplatz schräger Kurzkrimis. Die Geschichten sind das Resultat eines Projektes, mit dem eine Professorin ihren Studenten die Überbauung näher gebracht hat.
Quelle: Dom Publishers
Die Geschichten hat Natascha Meuser gleich selbst mit viel Liebe zum Detail illustriert.
Die Reihenhäuser der Siedlung Törten ziehen sich wie endlose Bänder der Strasse entlang. Ihr Reiz liegt in der Gleichförmigkeit. Vorgärten gibt es keine, der Asphalt reicht beinahe bis zur Fassade. So zeigen historische Fotografien die Überbauung. Entworfen hatte sie Walter Gropius in den 20er-Jahren, im Auftrag der Stadt Dessau: Die Häuser sollten den damals herrschenden Mangel an bezahlbaren Wohnungen in der ostdeutschen Industriestadt lindern. Insgesamt besteht die Siedlung aus 314 Reihenhäusern, deren Wohnfläche zwischen 57 und 75 Quadratmeter umfasst. Damit sich ihre Besitzer mit Gemüse versorgen oder Hühner halten konnten, legte man hinter jedem Haus einen zwischen 350 und 400 Quadratmeter grossen Garten an.
So uniform, wie die Anlage ursprünglich wirkte, so revolutionär war sie. Dies dürfte weniger für die Architektur gelten als dafür, wie die Bauten errichtet worden sind. Denn das Projekt war ein Experiment: Die Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau wollte anhand der Siedlung herausfinden, wie Wohnhäuser industriell und möglichst günstig errichtet werden können. So verwendete man für das Projekt nicht nur neue Baustoffe und neuartige Sanitäranlagen oder Küchenausstattungen, sondern versuchte auch die Arbeit auf der Baustelle zu rationalisieren. Jeder Arbeitsgang war wie in einer Fabrik völlig durchgetaktet. Zudem wurden manche Bauteile, etwa Stahlbetonträger respektive Rapidbalken, direkt vor Ort hergestellt.
https://www.instagram.com/p/BkPwrJ1HMEu/Der Baumarkt lässt grüssen
Allerdings scheiterte Gropius’ Vision nach wenigen Jahren an der Realität: Die Metallfensterbänder wurden in kürzester Zeit mit gewöhnlichen Holzrahmen ersetzt, weil man sie nicht richtig schliessen konnte. Zudem erweiterten manche Bewohner ihr Zuhause gartenseitig, da sie mit dem knappen Raum nicht klarkamen. Denn nur wenige Möbel passten in die relativ beengten Verhältnisse. Wer hier einziehen wollte, kaufte sich am besten die eigens für die Wohnungen entworfenen Einrichtungsstücke. Doch der Mehrheit der frischgebackenen Hausbesitzer fehlte das Geld. Heute pilgern zwar scharenweise Architekturinteressierte wegen der zahlreichen Bauhausbauten nach Dessau – auch wegen Törten. Dennoch ist nicht mehr viel vom früheren Charme der Siedlung sichtbar. Obwohl sie mittlerweile denkmalgeschützt ist. Die Häuser haben sich wegen der zahlreichen Anpassungen durch ihre Bewohner zum Teil stark verändert. Und so stehen sie nicht nur für Gropius’ Bauhaus, sondern eigentlich auch für die gleichnamige Baumarktkette, die hier zahlreiche Spuren – etwa in Form von Kunststofftüren und Laminatböden – hinterlassen hat.
Um solches geht es auch in den kleinen, teils abgründigen und teils skurrilen Erzählungen, die Natascha Meuser im Band «Törten. Kriminalgeschichten aus einer Bauhaus-Siedlung» herausgegeben hat. Sie ist Professorin für Innenraumgestaltung an der Hochschule Anhalt-Dessau. Die Kriminalfälle haben sich ihre Studenten ausgedacht. «75 Quadratmeter Wohnfläche auf zwei Etagen, teilunterkellert und mit Garten. Wirklich nichts Besonderes. Um daraus was zu machen, brauchen Sie natürlich gute Ideen und vernünftiges Material», sagt einer der Protagonisten, der im Baumarkt Fliesen sucht, mit denen er den Terrazzoboden der Küche überkleben will. Derweil hat ein anderer Törtenbewohner vom weissen Einerlei genug und verwandelt sein Heim in eine Villa Kunterbunt, während der Nachbar sich davon gestört fühlt und zu drastischen Mitteln greift.
«Törten hat mich als architektonisches Phänomen schon immer irritiert», schreibt Meuser im Nachwort. Dies hat sie zu einem Experiment inspiriert: Die Studenten sollten sich der Architekturikone nähern, indem sie sich vorstellten, was hinter ihren Fassaden geschehen könnte. Meuser wollte damit «Baugeschichte aus einem völlig anderen Blickwinkel» erlebbar machen. Die Studenten sollten so an die Bautypologie des modularen Wohnungsbaus herangeführt werden. Dass dies funktioniert, zeigen die detailreichen Schilderungen in den einzelnen Geschichten. Aber auch, dass die Kurzkrimis die Siedlung der Leserin auf fantasievolle Weise nahegebracht haben.
«Törten. Kriminalgeschichten aus einer Bauhaus-Siedlung»; Natascha Meuser (Hrsg.); DOM Publishers; 80 Seiten; 35 Illustrationen; Hardcover; ISBN 978-3-86922-632-3 / 18 Franken