Birkenrinde: Unkraut aus Sibirien als Superwerkstoff
Ein uraltes Material erlebt ein Revival: die Birkenrinde. Wegen ihren elastischen und wasserabweisenden Eigenschaften wurde sie früher unter anderem als Bedachung verwendet. Die Birkenrinde ist nun auch im Heute angekommen, zum Beispiel in Weimar, wo ein Neubau mit einer spektakulären Borkenfassade versehen wurde. Ein kleines Porträt des vielseitigen Werkstoffs.
Quelle: Paul Glaser
Von der nordischen Birke wird die Rinde in manuellem Verfahren geschält, der Baum lebt weiter.
Die Liste ist lang und rekordverdächtig: Die buddhistischen
Schriften wurden bereits im 1. bis 2. Jahrhundert v. Chr. auf Birkenrinde
geschrieben. In der Mittelsteinzeit verwendeten die Menschen Birkenrinde als
isolierende Schlafunterlage. In Finnland wurden mit Lehm und Kieseln gefüllte
Netzsenker jahrhundertelang zum Fischen verwendet. Urvölker aus der ganzen Welt
nutzten die Borke zwar für unterschiedliche Zwecke, aber aus demselben Grund:
wegen ihrer vielfältigen Eigenschaften. Birkenrinde ist wasser- sowie
schmutzabweisend und fäulnisresistent. Sie hat eine antimikrobielle Wirkung,
ist griffig, elastisch und quillt nicht auf.
Viele dieser Eigenschaften sind dem hohen Anteil an Betulin
zu verdanken, einem chemischen Stoff, der die Pflanze vor Bakterien-, Pilz- und
Schädlingsbefall schützt und sie wasser- sowie fettabweisend macht. Zu allen
diesen Charakteristika, die dem Werkstoff auch den Übernamen «Kunststoff der
Urzeit» gegeben haben, kommt ein Argument hinzu, das in der heutigen Zeit
besonders relevant ist: die Nachhaltigkeit. Denn die Birkenrinde ist ein
natürlich nachwachsender Rohstoff, denn die Bäume müssen für die Ernte nicht
gefällt werden wie das zum Beispiel für die Holz- oder Furnierherstellung
notwendig ist.
Nicht fällen, nur schälen
Birken wachsen in sämtlichen Regionen der Nordhalbkugel,
doch nicht alle eignen sich für den Abbau der Borke. Die Eigenschaften des
Baumes hängen von der geographischen Lage und den klimatischen Bedingungen ab.
Nur die nordische Birke, die in Finnland, Skandinavien und in Sibirien zu
finden ist, bringt gute Voraussetzungen mit. Vor allem in der sibirischen Taiga
wird Birkenrinde seit Jahrhunderten in manuellem Verfahren abgebaut. Dabei wird
der Baum geschält, ohne die Schicht des Baums, die für das Wachstum und die
Wundheilung zuständig ist, zu zerstören.
Die Birke kann also weiterwachsen. Ein Teil der Bäume, die
durchschnittlich 70 bis 100 Jahre alt werden, beschleunigt aber auch die
Erneuerung des Waldes, indem sie über die Jahre absterben und Organismen als
Totholz weiterhin wichtigen Lebensraum bieten. Die traditionelle Rindenernte
von Hand ist schonend und erfolgt ohne schweres Baugerät, das den Wald-boden
verdichten würde.
Hüte, Tassen, Körbe und Türgriffe wurden einst in Sibirien aus Birkenrinde gefertigt. Heute sind es vorwiegend handwerklich produzierte Dekoobjekte und Souvenirs. Das wollte die sibirische Designerin Anastasiya Koshcheeva ändern und das traditionelle Material mit zeitgemässem Design verbinden: Seit 2012 stellt sie Stühle, Lampen und neuerdings auch Uhrenarmbänder aus Birkenrinde her und hat damit zahlreiche Designpreise abgeräumt.
Quelle: Paul Glaser
Die Ott-Furnierpresse verpresst die einzelnen gestapelten Birkenrindenschichten mit dem Klebesystem zum Furnierblock.
Ein wahrer Verfechter des Materials ist zudem der Deutsche Tim Mergelsberg, der den Werkstoff während eines Studienaufenthalts in Sibirien kennenlernte. Das war im Jahr 2003, und mit den Jahren sowie mit vielen weiteren Reisen in den Norden Russlands reifte die Vision, aus dem natürlichen Rohstoff ein nachhaltiges, zeitgemässes Industrieprodukt für den Innenausbau zu entwickeln. Sein Start-up Nevi wurde 2019 gegründet und hat seither richtig Fahrt aufgenommen (siehe Interview unten).
In Zusammenarbeit mit Forschung und Entwicklung hat es das Unternehmen geschafft, aus der nordischen Birkenrinde maschinell produzierte Oberflächenmaterialien zu produzieren: Ein Furnier für den Innenausbau, besonders geeignet für den Nassbereich, sowie eine Oberfläche für Türgriffe. Zurzeit forscht das Team zudem an einem zu hundertprozentig kompostierbaren Kunststoffersatz. «Wir wollen nicht nur schöne Oberflächen kreieren», betont Mergelsberg, der ein Studium in «Inter-national Business und Cultural Studies» vorweisen kann. Vielmehr will er ein Wegbereiter für eine plastikfreie Welt mit hochwertigen Materialien sein.
Im Namen Goethes
Weit mehr als nur die Oberfläche hat auch die Architektin Helga Blocksdorf aus Berlin im Blick. In Weimar hat sie 2021 einen Gebäudeprototypen mit Birkenrindenfassade gebaut: das Erlebnisportal am Stadtschloss Weimar. Es gehört zu einem Ensemble der sogenannten Coudray-Mauer mit zwei Torhäusern, zwei Schlössern, einer Bibliothek und einem Wachhaus. Für die Architektin stand zu Beginn des Projekts die Frage, wie man ein Gebäude um das Stadtschloss experimentell und innovativ inszenieren könne.
Schliesslich fiel die Wahl auf eine helle Hülle aus Birkenrinde, nicht zuletzt bildet diese Fassade einen Verweis auf das nahe gelegene historische Borkenhäuschen an der Ilm. Dieses war unter der Regie von Johann Wolfgang von Goethe 1778 für die Dauer einer Aufführung errichtet worden und war ursprünglich mit Baumrinde verschalt. Seither ist das Kulturdenkmal in Weimar mehrfach umgebaut worden.
Quelle: Ruben Beilby
Das Birkenhäuschen Weimar ist ein Prototyp der Architektin Helga Blocksdorf. Sie ist Leiterin des Instituts Baukonstruktion an der Technischen Universität Braunschweig, wo wissenschaftliche Tests über das Verhalten der natürlichen Fassade durchgeführt werden. Eschenleisten rhythmisieren die Borkenfassade des Birkenhäuschens in Weimar.
Experiment und Forschung
Die Fassade des Erlebnisportals besteht aus modularen und rückbau- bzw. wiederaufbaubaren Zementboard-Platten (A2), auf welchen 3 bis 6 Millimeter starke Birkenrinde, die aus Tim Mergelsbergs Produktion Nevi stammt, angebracht wurde. Leisten aus Eschenholz fixieren das natürliche Material und rhythmisieren die Fläche. Die handwerklich anspruchsvollen Arbeiten wurden von lokalen Baubetrieben ausgeführt. Die ästhetische Wirkung des Borkenkleids ist umwerfend, obwohl diese nicht der Hauptgrund für die Architektin war, das Material anzuwenden.
«Wir müssen stärker wieder die Baustoffe, die traditionell zur Verfügung stehen, in die Lehre und Forschung mit einbeziehen», sagt Helga Blocksdorf in einer Interview mit der Technischen Universität Braunschweig, an der die Professorin seit März 2021 das Institut für Baukonstruktion leitet. Und so war ihr Birkenhaus in Weimar einerseits ein konstruktives Experiment, vor allem aber ist es Gegenstand der Forschung in ihrem Institut an der TU Braunschweig.
Gemeinsam mit der Professorin für Baukonstruktion und Holzbau Elisabeth Endres und dem Professor für Membranbau und Holzbrückenbau Mike Sieder erforscht und evaluiert sie am Institut die Fassadenbekleidung mit Birkenrinde in den kommenden Witterungsperioden durch ein Monitoring der Holz- und Raumfeuchte. Hierbei geht es um die Gegenüberstellung aus Rechenmodell, Simulation und tatsächlich gemessenen Werten im Jahreszyklus, die den Konstruktionsansatz «Birke auf Holz» ohne zusätzliche Bauteilschichtungen kompatibel machen können mit den vorherrschenden Bauvorschriften und Normen.
Das Ziel der Untersuchung ist es weiter, die Vielfalt der Konstruktionen mit regionalen und nachwachsenden Rohstoffen zu erweitern. Denn die Professorin ist davon überzeugt, dass die Architekten und die Baubranche nicht weiterhin vor allem auf drei Bau-materialien – Stahl, Glas und Beton – setzen sollten. Dies einerseits, weil gewisse Ressourcen wie zum Beispiel Sand knapp wird, andererseits weil diese Werkstoffe einen hohen Energieverbrauch in der Herstellung haben.
Quelle: Paul Glaser
Die Oberflächen von Nevi eignen sich für den Innenausbau, insbesondere für Nassbereiche, da die Birkenrinde wasserabweisend ist. Möglich sind gerade oder gewellte Oberflächen.
«Konstruktiver Ungehorsam»
Mit dieser Haltung ist die Architektin Blocksdorf nicht allein. Gemeinsam mit Katharina Benjamin vom Online-Architekturmagazin Kontextur und Matthias Ballestrem von der Hafencity Universität in Hamburg hat sie 2021 die Initiative «Konstruktiver Ungehorsam» ins Leben gerufen. Die Initianten rufen Architektinnen, Ingenieure, Produzentinnen und Handwerker auf, Know-how aus ihren konstruktiven Experimenten mit Interessierten zu teilen und so ein Netzwerk von spezialisierten Fachleuten zu bilden, die neue Wege hinsichtlich Baumaterialien suchen.
Immer mit dem Fernziel, dass diese Materialien durch wissenschaftliche Recherchen und Tests später einmal Einzug halten in der Realität des Bauwesens. Das erste Symposium von «Konstruktiver Ungehorsam» findet Mitte September 2022 an der Technischen Universität Braunschweig statt. Es soll eine grössere, vernünftigere und vor allem nachhaltigere Artenvielfalt bei Baukonstruktionen ankurbeln. Wie das Unkraut Sibiriens die wissenschaftlichen Tests abschneiden wird, steht derzeit noch in den Sternen. Das Potenzial ist jedenfalls gross, und vielleicht wird es dereinst sogar zu einem kleinen, nachhaltigen Liebling der Baubranche werden.
Quelle: Paul Glaser
Gründer und CEO von Nevi, Tim Mergelsberg, mit Birkenrinde, die auf die Weiterverarbeitung wartet.
«Unser Ziel ist ein Cradle-to-Cradle-Produkt»
Tim Mergelsberg ist Gründer und CEO von Nevi. Vor 20 Jahren
lernte er das Material Birkenrinde in der Taiga kennen. Er erkannte das
Potenzial des Rohstoffes, knüpfte Kontakte in Sibirien, Nordrussland,
Skandinavien und dem Baltikum und gilt heute als Experte auf diesem Gebiet.
2019 gründete er den Produktionsbetrieb Nevi, in dem ein patentiertes
maschinelles Verfahren entwickelt wurde, das Birkenrinde als Furniermaterial
produziert.
Das von Ihnen entwickelte Material Betula Veneer ist jetzt
serienreif. Wie lange war der Weg?
Tim Mergelsberg: Die Entwicklungszeit hat drei Jahre
gedauert. Produkte mit Birkenrinde gibt es schon seit der Urzeit und auch heute
noch, aber die meisten Objekte werden handwerklich hergestellt. Wir hingegen
wollten von Anfang an einen industriell hergestellten Werkstoff aus Birkenrinde.
Wie genau sieht die Produktion aus?
Die Rinde von Sibirien-Birken wird in flach gepressten
Platten angeliefert und anschliessend von der weissen Aussenseite gereinigt.
Bis zu 120 Lagen Birkenrinde bildet dann den Grundstock für unser Furnier
Betula Veneer. Unter hohem Druck wird das Grundmaterial zu einem Block
verpresst. Dieser Vorgang geschieht bei uns im Werk in Görlitz. Danach wird der
Block von einem Furnierwerk gemessert.
Warum ausgerechnet im ostdeutschen Görlitz?
Es birgt eine gewisse Ironie, dass wir mit unserem nachhaltigen
Unternehmen ausgerechnet in der Hochburg von Braunkohle zu Hause sind… Aber es
ist so, dass in dieser Region seit etwa fünf Jahren ein lebendiger
Strukturwandel stattfindet, man spürt einen gewissen Schwung. Und tatsächlich ist
Görlitz die Startup-Hauptstadt in Deutschland. Wir haben hier ein Umfeld im
Aufbruch und ideale, bezahlbare Produktionsräume in einem alten Kühlhaus aus
den 50er-Jahren gefunden.
Wie viele Mitarbeiter haben Sie?
Vor einem Jahr waren wir noch zu zweit, heute hat das
Unternehmen bereits 8,5 Angestellte. Zum Teil hochspezialisierte Fachleute, wie
zum Beispiel Christian Schäffer. Er ist der technische Leiter und bringt als
Materialwissenschaftler und Klebesystemexperte die besten Voraussetzungen dafür
mit.
Apropos Klebestoff: Ist dieser nicht ein Problem?
Momentan entwickeln wir in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer
Institut in Halle einen Klebstoff, der unser Material bis zu 90 Prozent
pflanzlich nachwachsend macht. Unser Ziel ist ein Cradle-to-Cradle-Produkt,
aber der Weg dorthin ist tatsächlich noch lang. Bisher verwenden wir zur
Herstellung von Betula Veneer noch Epoxidharz.
Können Sie von einem aktuellen Projekt erzählen?
Wir statten soeben ein Yoga-Studio in Dresden aus, inklusive
Nassbereichen, denn dies ist ja gerade die Stärke der Birkenrinde.
Besteht keine Skepsis bezüglich der Eignung des
Naturprodukts im Sanitärbereich?
Eigentlich nicht, aber sicher braucht das Zeit. Ich dusche
seit fünf Jahren auf einem Birkenrinden-Boden. Es fühlt sich super an und hat
sich gut bewährt. Im Unterschied zu Holz ist Betula Veneer eben gerade
besonders für Nassräume geeignet und kann als Boden- und Wandmaterial genutzt
werden. Minimal auf-genommenes Wasser wird schnell wieder abgegeben, es kommt
nicht zu Fäulnis oder Aufquellen. Wasserflecken haben so keine Chance, und das
ohne Lack oder chemische Oberflächenbehandlung. Und das Material hat noch einen
Vorteil: Es hat eine hohe Rutschfestigkeit.
Aus welchen anderen Bereichen besteht ein Interesse und
welches Potenzial sehen Sie noch?
Wir entwickelten auch ein Material für Tür- oder
Möbelgriffe: Betula Handles. Doch auch von Seiten der Autoindustrie besteht ein
grosses Interesse für die nachhaltige und zugleich edle Innenausstattung von
Fahrzeugen. Dann hatten wir auch schon Anfragen für die Fertigung von
Edelsärgen oder Fahrradhelmen. Es gibt noch sehr viele Felder, in denen die
Birkenrinde zum Einsatz kommen könnte, gerade auch im Bauwesen. Ich glaube, der
Werkstoff Birkenrinde hat das Potenzial, die Bauwelt zu revolutionieren, nicht nur
als Material im Innenausbau und an Fassaden, sondern auch als Ersatz für
Bitumen.
Haben Sie keine Bedenken wegen Nachahmern?
Erstens haben wir Patente auf die Fertigung und auf das
Design. Zweitens ist Birkenrinde ein sehr eigenwilliges Material, dessen
industrielle Verarbeitung hochkomplex ist. Das macht es für Konkurrenten nicht
einfach. (ka)
Serie über neue Baumaterialien
In einer losen Folge stellt das Baublatt innovative Materialien im Bereich Konstruktion, Architektur und Innenausbau vor. Dabei geht es sowohl um traditionelle, in Vergessenheit geratene Werkstoffe, die neu entdeckt und weiterentwickelt werden, als auch um Recyclingoder Hightech-Materialien.