BIM-to-Field: Eine papierlose Modellbaustelle
Derzeit wird in Flums SG ein Wasserkraftwerk ohne Papierpläne erneuert. Planer, Baumeister und Bauherr setzen gemeinsam auf konsequent digitalisierte Prozesse. Die positiven ersten Erfahrungen im Pilotprojekt haben interne Skeptiker zum Schweigen gebracht.
Quelle: Gabriel Diezi
Beim Neubau des Flumser Kraftwerks Schils führen Strabag-Polier Jonas Jucker und seine Leute die Absteckung und alle nachfolgenden Arbeiten konsequent modellbasiert aus.
Seit drei Wochen ist das Tablet der ständige Begleiter von Jonas Jucker. Solange arbeitet der Polier auf der ersten papierlosen Baustelle des Strabag-Konzerns in Flums SG. Und dies ohne grössere Probleme, wie er beim Lokaltermin Ende Januar betont: «Nach einem Crash-Kurs war ich schnell in der digitalen Arbeitsmethode drin. Die Bedienung des iPads ist wirklich intuitiv.» Beim Neubau des Kraftwerks Schils praktiziert die Strabag AG das sogenannte BIM-to-Field erstmals in absoluter Konsequenz – bringt das Building Information Modeling also wirklich raus auf die Baustelle.
Alles wird hier modellbasiert ausgeführt: Angefangen vom Aushub, über die Absteckung bis hin zu den Schalungs- und Bewehrungsarbeiten, zu denen auch die Abnahme sowie die interne Qualitätssicherung gehören. Sämtliche Pläne für die Baustelle werden also nicht mehr wie sonst üblich auf Papier angeliefert, sondern gelangen als 3-D-Modell im offenen IFC-Austauschstandard (Industry Foundation Classes) direkt via Cloud auf die Tablets von Jucker und seinen Kollegen. Aktuell bereiten sie gerade die nächste Betonieretappe der Gebäudebodenplatte vor.
Nach dem Rückbau der alten Kraftwerkszentrale Sägengüetli entsteht in der Baugrube an der Strasse hinauf ins Skigebiet Flumserberg das neue Herzstück des Elektrizitätswerks Schils. Dieses hatte seit 1900 unter anderem die Stromversorgung der nahegelegenen Spinnerei Spoerry sichergestellt, eines Traditionsbetriebs, der 2009 den Betrieb einstellen musste. Die St. Gallisch-Appenzellische Kraftwerke AG (SAK), welche die EW Schils AG 2014 erworben hatte, will die Wasserkraft im Schilstal ab Frühling 2021 effizienter nutzen.
Dafür lässt sie derzeit die in die Jahre gekommenen Anlagen rundum erneuern: Anstelle der fünf Zentralen mit acht Maschinengruppen tritt die neue Zentrale Sägengüetli mit den beiden Maschinengruppen Aeuli und Bruggwiti. Die jährliche Energieproduktion erhöht sich dadurch von 39 auf 48 Gigawattstunden. In Zukunft können somit 10700 Haushalte mit Strom aus Wasserkraft versorgt werden, das sind 2000 mehr als bisher.
Quelle: Gabriel Diezi
Gebaut wurde das Wasserkraftwerk Schils ursprünglich zur Stromversorgung der ehemaligen Spinnerei Spoerry, in deren Räumlichkeiten sich heute Gewerbebetriebe und Dienstleister finden.
Gemeinsam besser geplant
Im Juli 2019 erhielt die Strabag AG von der SAK den Zuschlag für das Baulos 1 im Umfang von 2,5 Millionen Franken. Darin enthalten sind der Rückbau der bestehenden Kraftwerkszentrale, der Aushub und die Baugrubensicherung, die Stahlbetonarbeiten für die neue Zentrale sowie die Planung der Gebäudehülle. «BIM-to-Field war hingegen im unterzeichneten Werkvertrag nicht verankert», berichtet Stijepan Ljubicic, BIM-Manager und -Koordinator bei der Strabag AG. Diesbezüglich den Stein ins Rollen gebracht habe die Planerfirma Pöyry mit ihrer Anfrage, ob sie die Ausführungspläne für das Kraftwerk Schils anstatt in Papierform als 3-D-Modelle anliefern könnten. «Unser technischer Bereichsleiter Franz Hutter und ich fanden diesen Ansatz sehr spannend. Gemeinsam mit dem Bauherrn SAK haben wir deshalb entschieden, auf der Flumser Baustelle das modellbasierte Bauen im Rahmen eines Pilotprojekts zu wagen», so Ljubicic.
In einer intensiven Vorbereitungsphase wurden dafür zuerst die neuen Prozesse gemeinsam aufgesetzt – und zwar so, dass diese dann auf der Baustelle auch funktionieren und dem Baustellenteam einen Mehrwert liefern sollten. Für die anschliessende detaillierte Koordination traf man sich beim Planer Pöyry monatlich zu sogenannten ICE-Sessions. «Dabei haben wir gemeinsam modellbasiert die vorhandenen Kollisionen bereinigt und die Projektplanung erstellt», schildert Ljubicic den Kern dieser integrierten Kooperationsworkshops (ICE: Integrated Concurrent Engineering). Allfällige Probleme hätten sie also direkt am Modell miteinander besprochen und gleich gelöst. «Wir erhoffen uns davon eine bessere Planungsqualität, die auf der Baustelle zu weniger Bauablaufstörungen und dadurch zu effizienteren Arbeitsabläufen führt.»
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Die Technologie für BIM-to-Field ist nicht das Problem. Man darf nicht vergessen, die Menschen auf den Weg mitzunehmen.
Stijepan Ljubicic, BIM-Manager, Strabag AG
Stijepan Ljubicic, BIM-Manager, Strabag AG
Seltene Nachbesserungen
Die ersten Erfahrungen auf der Baustelle bestätigen dies denn auch. Gemäss aktuellem Stand sei nur eine kleine Änderung bei der Baugrubensicherung aufgrund örtlicher Gegebenheiten notwendig gewesen, weiss Ljubicic. «Die Bauleitung spielte diese nach der Aufnahme auf der Baustelle über die Cloud zurück ins 3-D-Modell. Bereits zwei Stunden später konnte unser Polier basierend auf dem aktualisierten Modell weiterarbeiten – und die neuen Punkte mit der Totalstation abstecken.» Darüber habe dieser nicht schlecht gestaunt. Schliesslich sind bisher schnell einmal zwei Tage vergangen, bis ein neuer 2-D-Papierplan auf der Baustelle angekommen ist.
Tatsächlich zeigt sich auch Polier Jucker von der modellbasierten Absteckung überzeugt, die Strabag in dieser Art und Weise zum ersten Mal praktiziert. Auf dem iPad greift er dafür im 3-D-Modell einen Absteckpunkt ab, der via Bluetooth-Bridge an das daneben stehende elektronische Tachymeter übermittelt wird. Diese sogenannte Totalstation zeigt ihm danach per Laser die exakte Lage des Absteckpunkts an. «Und so gehe ich dann Schritt um Schritt durch den Steckraum, der hier in Flums recht komplex ist», erläutert Jucker. «Fehler sind dank der präzisen Methode dennoch praktisch ausgeschlossen.»
Quelle: Gabriel Diezi
Die neue Kraftwerkszentrale Sägengüetli entsteht: Aktuell bereiten die Bauarbeiter die nächste Betonieretappe der Gebäudebodenplatte vor.
Zweifel wurden widerlegt
Solche Erfolgserlebnisse, die sich herumsprechen, braucht BIM-Manager Ljubicic. Schliesslich wecken die von ihm mit Herzblut propagierten neuen Arbeitsprozesse mit digitaler Unterstützung auch Ängste. «Ich war zuerst ein Skeptiker», gesteht etwa Sandro Kurath, «und habe mich über den Entscheid für eine papierlose Baustelle nicht nur gefreut.» Für den aus Flumserberg stammenden Strabag-Bauführer gab es zu Projektbeginn einfach noch zu viele offenen Fragen. «Doch auch unsere älteren Poliere haben sich schnell eingearbeitet und die neuen Prozesse angenommen – und sie müssen das BIM-to-Field schliesslich auf der Baustelle umsetzen.»
Besonders angetan hat es Kurath jedoch die modellbasierte Bewehrung. Dank der dreidimensionalen Visualisierung auf dem Tablet werde das Eisenlegen für alle Beteiligten viel verständlicher, schliesslich sei da jedes einzelne Eisen modelliert. Gerade die fremdsprachigen Akkord-Mitarbeiter hätten davon stark profitiert, bestätigt auch Polier Jucker: «Zu Beginn bediente ich das Bewehrungsmodell am iPad, mittlerweile schauen meine Arbeiter selbst drauf. Klassische Bewehrungspläne so selbständig zu lesen und zu verstehen wäre eine ganz andere Geschichte.»
Quelle: Gabriel Diezi
Die Bauarbeiter haben sich rasch an das Arbeiten mit dem Tablet gewöhnt und greifen mittlerweile bei Bedarf selbst auf die dreidimensionalen Bewehrungsansichten zu.
Materialbestellungen online
Spannend sei, dass ausgerechnet die modellbasierte Bewehrung im Vorfeld das «grosse Schreckgespenst» aller Involvierten gewesen sei, erzählt BIM-Manager Ljubicic. Die erste Etappe der Bewehrungsarbeiten ganz ohne Papierpläne und ausgedruckte Eisenlisten erlebte er deshalb persönlich als grossen Showdown: «Ich war sehr angespannt und entsprechend erleichtert, als es problemlos funktioniert hat.»
Die Eisenlisten mit den Positionsnummern seien bei der modellbasierten Methode direkt im Bewehrungsmodell hinterlegt. Der Polier könne via Tablet auf diese Listen zugreifen, die Eisen für eine Etappe online bestellen und nach Eingang der Lieferung die Ausführung gemeinsam mit den Bauarbeitern in Angriff nehmen, erläutert Ljubicic. Ob entscheidende Betonieretappen wie geplant ausgeführt sind, kontrolliert die Bauleitung am Schluss mittels einer digitalen Checkliste. In der Folge ist das Abnahmeprotokoll sofort für alle Beteiligten online verfügbar.
Was der Strabag-Crew in Flums aktuell noch fehlt, sind praktische Erfahrungen mit modellbasierten Schalungsarbeiten. Ab dem Erdgeschoss der neuen Kraftwerkszentrale wird dann aber bei allen Betonieretappen mit dem vom Lieferanten Doka erstellten Schalungsmodell gearbeitet. «Dieses muss so geplant und aufgebaut sein, dass es zu den örtlichen Gegebenheiten und unserem Schalungskonzept sowie dessen Umsetzung auf der Baustelle passt: Das ist die Krux an der Sache», sagt Ljubicic.
Sei dies gegeben, lasse sich das komplette Schalungsmaterial pro Betonieretappe direkt aus dem Modell heraus automatisch ermitteln und bestellen. «Das benötigte Material trifft dann genau zum Zeitpunkt des geplanten Einsatzes ein und kann optimal genutzt werden. So steht viel weniger Schalungsmaterial auf der Baustelle herum», betont Ljubicic. Bei den knappen Platzverhältnissen rund um die Flumser Baugrube sei dies ein grosser Vorteil.
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Dank der Online-Bestellung direkt aus dem Modell wird das Material just-in-time geliefert, was bei den knappen Platzverhältnissen rund um die Baugrube von Vorteil ist.
Für Kälte und Nässe gerüstet
Das modellbasierte Bauen mit handelsüblichen Tablets birgt aber auch gewisse Ausfallrisiken in sich. Schliesslich findet die Ausführung immer noch draussen bei Wind und Wetter statt. Und gerade auf einer Winterbaustelle wie in Flums können die klimatischen Bedingungen selbst für robustes technisches Equipment in einer Schutzhülle herausfordernd sein. «Mit dem aussergewöhnlich milden Winter hatten wir bisher sicher Glück», sagt Ljubicic. Doch die Crew würde dank guter Ausrüstung auch härtere Zeiten überstehen.
Um die Stromversorgung insbesondere in Kältephasen zu verlängern, wurden eigens Powerbanks eingekauft und die dazu passenden Halterungen auf dem 3-D-Drucker hergestellt. Zudem werden die Akkus der drei iPads, die gleichzeitig im Einsatz stehen, regelmässig aufgeladen. Ebenso wichtig war es, die Bedienbarkeit der Tablets bei starkem Regen sicherzustellen. Und auch dafür fand die Strabag-Crew eine pragmatische Lösung. «In Eigeninitiative haben wir ein kleines mobiles Vogelnestchen gebaut, wie ich es nenne», schmunzelt Ljubicic. «Darin ist das iPad wunderbar geschützt.»
Sogar bei der aktuell trockenen Witterung hat Polier Jucker sein iPad ins selbstgezimmerte Kabäuschen gestellt, damit seine Arbeiter bei Bedarf gleich selbst auf die dreidimensionalen Modellansichten der Schalung und Bewehrung zugreifen können. Die neuen Abläufe seien gut zu vermitteln, die Tools intuitiv, meint er: «Man muss sich dafür einfach zuerst die ‹gwundrigen› Arbeiter herauspicken.»
Quelle: Gabriel Diezi
Eine zugekaufte Powerbank kombiniert mit einer Halterung aus dem 3-D-Drucker verlängert die Akkulaufzeit: So trotzt man auf einer digitalisierten Winterbaustelle pragmatisch der Kälte.
Entscheidend ist der Faktor Mensch
Auch BIM-Manager Ljubicic betont, dass er sich wegen der Ausbildung der Leute eigentlich zu viele Sorgen gemacht habe: «Nach einer kurzen Einführung haben unsere Leute die neuen Schritte direkt am lebendigen Objekt gelernt.» Es sei ein effizientes Learning by Doing gewesen. Mittlerweile laufe der Baustellenbetrieb unter der Regie des Poliers so gut, dass er im Normalfall nur noch einmal pro Woche unterstützend vor Ort sei. Und das sei gut so, findet Ljubicic: «Es ist besser, wenn der Polier seinen Bauarbeitern die neuen Prozesse selbst vermittelt. Es ist vertrauenswürdiger und hat eine grössere Überzeugungskraft.»
In den ersten Wochen war Ljubicic jedoch jeden Tag draussen auf der Flumser Baustelle. Das sei wichtig gewesen, um dem damaligen Polier gleich von Anfang an das Vertrauen in die neue Arbeitsweise zu geben. Denn die grösste Hürde bei der Einführung neuer Prozesse wie dem modellbasierten Bauen sei die Unsicherheit der Beteiligten, betont Ljubicic. «Die Technologie für BIM-to-Field ist nicht das Problem. Man darf nicht vergessen, die Menschen auf den Weg mitzunehmen.»
Mittlerweile hat die Crew auf ihrer papierlosen Pilotbaustelle oberhalb von Flums schon eine schöne Wegstrecke gemeinsam zurückgelegt. Die Abnahme von Baulos 1 ist schliesslich bereits für diesen August geplant. Doch was folgt bei der Strabag bezüglich BIM-to-Field nachdem das Projekt in Flums beendet ist? «Wir werden sowohl im Projektteam als auch intern erst einmal gemeinsam ein Fazit ziehen», sagt Ljubicic. Dafür werde er sich sicher mit dem Bauführer, den Polieren und dem technischen Bereichsleiter zusammensetzen. «Wir werden uns dann fragen, was funktioniert hat und wo es Verbesserungspotenzial gibt. Zudem gilt es zu besprechen, welchen Mehrwert uns das modellbasierte Bauen gebracht hat.»
Quelle: Gabriel Diezi
Bei der Einführung neuer Arbeitsprozesse ist die Kommunikation matchentscheidend: BIM-Manager Stijepan Ljubicic (links) im Gespräch mit Polier Jonas Jucker.
BIM-Sprungbrett für mehr
Ljubicic ist jedoch bereits heute zuversichtlich, dass es ihm und seinen Strabag-Kollegen gelingen wird, das im Pilotprojekt gewonnene BIM-Knowhow zu standardisieren und weitflächig zu skalieren. Man sei diesbezüglich mit diversen internationalen BIM-Verantwortlichen aus dem Strabag-Konzern im engen Austausch. Mit Blick auf die Zukunft sei es vor allem wichtig, den in Flums erarbeiteten Wissensvorsprung bei künftigen BIM-Ausschreibungen gezielt zu nutzen. Vielleicht gelinge dies ja schon beim Baulos 4 für das Kraftwerk Schils, erzählt Ljubicic: «Denn diesmal verlangt die Bauherrin SAK ausdrücklich, die Ausführung mittels BIM-to-Field als Option einzugeben, was doch für unsere laufende Baustelle spricht.»