Baugeschichte auf Sylt: Die Friesenhäuser von Keitum
An keinem Ort ist nordfriesische Baugeschichte so konzentriert vorhanden, wie im kleinen Keitum auf der Insel Sylt, in Norddeutschland. Dort findet man eine Ansammlung alter, reetgedeckter Friesenhäuser, die grösstenteils vor Hunderten von Jahren gebaut wurden.
Quelle: Claudia Bertoldi
Reetgedeckte Häuser sind typisch für die traditionelle Architektur an der Nord- und Ostsee, im Bild ein Reetdachhaus in Keitum auf Sylt.
Sylt ist die nördlichste Insel von Deutschland,
über 1000 Kilometer von der Schweiz weg, eine Tagesfahrt mit dem Auto oder
zwei Flugstunden entfernt. Dennoch sind Schweizer Kennzeichen dort keine
Seltenheit. Hört man genau hin, merkt man schnell, dass die Leute alles andere
als deutsche Schweiz-Einwanderer sind, die es in den Ferien zurück in deutsche
Landen zieht. Die Insel ist bei Schweizern seit langem ein begehrtes
Urlaubsziel, vor Corona bot Swiss sogar regelmässige Direktflüge an.
Sylt – das sind vor allem kilometerlange, breite weisse Sandstände, das Wattenmeer an der östlichen Seite der langgezogenen Insel, die rund 50 Meter hohe Wanderdüne Uwe, Wind, Wellen und Sonne, Radeln, Surfen und Kiten, Ausflüge zu den Robbenkolonien oder auf die Nachbarinseln Amrum, Föhr oder Helgoland. Für Abwechslung ist also ausreichend gesorgt.
Friesische Architektur-Perle
Doch auch ein Ausflug in die kleinen Inseldörfer abseits der Touristenorte lohnt sich. Sie haben noch viel von ihrem ursprünglichen Charme erhalten und werden liebevoll gepflegt. Besonders Keitum, im Osten des Inselhauptortes Westerland und nördlich des Hindenburgdamms am Wattenmeer gelegen, ist eine Perle unter ihnen.
Reetgedeckte Backsteinhäuser
Der 11,3 Kilometer lange Hindenburgdamm ist übrigens die einzige Verkehrsverbindung, die Sylt mit dem Festland von Schleswig-Holstein verbindet. Er wurde 1927 nach vier Jahren Bauzeit eröffnet und dient ausschliesslich dem Eisenbahnverkehr. Autos können also nur per Zugverlad oder Fähre auf die Insel.
Wie auch sonst auf der ganzen Insel, stechen hier die reetgedeckten, weissgetünchten oder roten Backsteinhäuser ins Auge. Sie werden auch heute weiterhin im selben Stil errichtet und verbergen sich oft hinter blumenbewachsenen Steinmauern oder Sandwällen, die vor den vom Meer kommenden Winden schützen.
Beim Spazieren durch die Alleen von Keitum wird man immer wieder überrascht. Kein Haus gleicht dem anderen. Noch verblüffender sind allerdings die Jahreszahlen, die ihre Erbauer zumeist über der Eingangstür verewigt haben, wie 1756 oder 1776. Seit Ewigkeiten trotzen die Häuser den starken Winden und Unwettern, die regelmässig über die Nordseeinsel hereinbrechen. Ihre solide und robuste Bauweise hat sich seit Jahrhunderten bewährt.
Das «Altfriesische Haus seit 1640»
Um die Bau- und Lebensweise der Inselbewohner kennenzulernen, besucht man am besten das Museum «Altfriesisches Haus seit 1640». Das ehemalige Wohnhaus einer Kapitänsfamilie ist eines der ältesten Gebäude im Ort und liegt direkt am Wattenmeer. Im 19. Jahrhundert zog der Lehrer und Chronist Christian Peter Hansen hier ein. Er legte den Grundstock der Sammlung des Museums. Die Ausstellungen gibt Einblick in das Inselleben vor dem 20. Jahrhundert. Im Inneren des Hauses sieht man bei einem Rundgang durch die Wohnstube, Kammern, Küche und Speisekammer die typische Einrichtung und Gebrauchsgegenstände der vergangenen Jahrhunderte.
Das Haus wurde im sogenannten uthlandfriesischen Stil in Ständerbauweise errichtet. Die Häuser sind niedrig und langgestreckt gebaut und mit den schmalen Seiten gen Osten und Westen ausgerichtet. Dadurch bieten sie dem Wind weniger Angriffsfläche. Die Aussenmauern sind aus Backstein. Der typische Friesengiebel ist so gebaut, dass bei einem Brand das brennende Reet zur Seite, aber nicht vor die Haustür rutschen konnte und somit die Flucht ermöglichte.
Die Dachkonstruktion ruht auf zwei Reihen hölzerner Ständer. Diese wurden tief in den Boden eingegraben und lagern auf grossen Feldsteinen. Zwei Längsbalken sind auf den Ständern gelagert, über diesen verlaufen quer die Deckenbalken. An den Enden sind die Dachsparren befestigt, auf denen Holzlatten aufgenagelt wurden. Darauf lagert das Reet, das «aufgenäht ist.Nicht weit entfernt vom «Altfriesischen Haus seit 1640» gibt es im Sylt Museum weitere Informationen zur Inselgeschichte. Der Schwerpunkt liegt hier auf den Bereichen Volkskunde und Kunst.
Dauerhaftes Schilf
Das Reetdach ist auch heute auf Sylt eine der beliebtesten Dachformen. Das Naturmaterial Schilf passt wie kein anders zur Gegend und macht den Charme dieser traditionellen Häuser aus. In der Gemeinde Kampen, vielen bekannt als Treffpunkt der «Reichen und Schönen» der Insel, gibt es Satzungen, die die ausschliessliche Verwendung von Reet vorschreiben. Auch in Keitum und Wenningstedt gibt es Ortsteile oder Bereiche, in denen ebenfalls nur Reetdächer gebaut werden dürfen.
Aufbau des Reetdaches
Ein Reetdach wurde früher traditionell ohne
Hinterlüftung konstruiert. Reet besitzt eine sehr gute Isolationswirkung. Die
geringe Dichte des Schilfs sorgt für guten sommerlichen Wärmeschutz und gute
Wärmedämmung im Winter. Die Halmstruktur des Schilfs führt im nicht ausgebauten
Reetdach zu einer starken Durchlüftung, das heisst, es besteht ein
kontinuierlicher Luftaustausch. Dies bewirkt auch, dass ein Feuchtestau mit
Pilz- oder Schimmelbefall vermieden wird. Da die meisten Dächer inzwischen ausgebaut
werden, wird der Unterbau angepasst und mit einer Hinterlüftung als Kaltdach
gebaut. Diese Hinterlüftungsschicht soll die sich ansammelnde Feuchtigkeit
abführen und so für eine höhere Lebensdauer des Reetdaches sorgen. Dies muss
fachmännisch ausgeführt werden, denn einige Anforderungen und Parameter sind
zwingend einzuhalten.
So Reetdächer sollten eine Dachneigung von
über 45 Grad haben, damit das Regen- oder Kondenswasser von Halm zu Halm
gleiten kann. Auf diese Weise wird bei Niederschlag nur die oberste Schicht der
Dachdeckung durchfeuchtet. Zudem haben Reetdächer einen grossen Traufüberstand
von mindestens 50 Zentimetern. Da die Dächer keine Regenrinne haben,
tropft das Wasser so in weitem Abstand zum Mauerwerk ab.
Geschraubt, genäht oder gebunden
Ein Reetdach kann auf drei verschiedene Arten
hergestellt werden: geschraubt, genäht oder gebunden. Das Reet wird in
geschnürten Bündeln geliefert. Nachdem es auf den Dachlatten verteilt ist, wird
es so verschoben, dass die unteren Reethalmenden eine schräge einheitliche,
durchgehende Fläche bilden. Die Wurzelenden des Schilfs zeigen zum Boden.
Die unterste Schicht, die sogenannte
Traufschicht, wird unter Spannung durch die Bindung am Dach gehalten. Bei
gebundenen und geschraubten Dächern wird ein Haltedraht auf die rund einen
Meter breiten und 10 bis 20 Zentimeter starken Lagen gelegt und durch
einen geschraubten oder gebundenen Draht auf die Lage gedrückt. Mit einem
Klopfbrett werden die Lagen solange hochgeklopft und in Form gebracht bis der
Dachfirst erreicht ist. Die Bindung der einzelnen Lagen liegt in der Mitte der
Deckschicht. Das genähte Reetdach kommt ohne Haltedraht aus, ist aber aufwändiger
in der Bearbeitung.
Ein fachmännisch hergestelltes Reetdach hat
eine durchschnittliche Lebensdauer von 30 bis 50 Jahren. Doch Ausnahmen gibt es
auch hier. Manche Dächer sind bereits über 100 Jahre alt. Die Lebensdauer
wird von verschiedenen Kriterien beeinflusst, unter anderem von der Dachform
und -neigung, der Anzahl der Gauben oder Aufbauten, der Hinterlüftung, den
Lüftungsgewohnheiten der Nutzer, des Qualität des verwendeten Schilfs, besonders
dessen Einbaufeuchte, sowie von der Pflege und Wartung des Daches.