Wie Schlieren vom Unort zur Vorzeigestadt wurde
Der erste Schritt zu einer nachhaltigen Raumentwicklung ist eine Strategie. Darüber waren sich die Fachleute am Jahreskongress von Espace Suisse einig. Eine Vorreiterin ist die Zürcher Stadt Schlieren. In der Krise erarbeitete sie ein Stadtentwicklungskonzept. Seither erlebt sie einen Boom.
Es ist noch nicht lange her, da war die Zürcher Agglomerationsstadt Schlieren am Boden. «Würden Sie nach Schlieren ziehen?», fragte 2004 ein TV-Team Passanten in der Zürcher Innenstadt. «Nein, sicher nicht», lautete die einhellige Antwort. Durchgangsverkehr, keine Identität, keine zeitgemässen Wohnungen, eine einkommensschwache Bevölkerung, ein hoher Ausländeranteil, zu viele Gebrauchtwagenhändler.
Im letzten Jahrhundert hatte sich das einstige Bauerndorf in eine Industriestadt verwandelt. Doch dann verschwanden zwischen 1970 und 1990 viele Fabriken. Auch mehrere grosse Unternehmen wie die Wagons- und Aufzügefabrik, die Firma Aluminium Schweisswerk oder die Färberei schlossen ihre Tore. Zurück blieben riesige Brachen, vor allem entlang der Bahngleise.
Heute ist Schlieren ein Schweizer Vorzeigeort. Die Stadt im Limmattal wuchs innerhalb von 15 Jahren von 12 000 auf 18 500 Einwohner, ohne auch nur einen Quadratmeter Kulturland zuzubauen. Sie macht schon lange vor, was heute mit dem revidierten Raumplanungsgesetz im ganzen Land angestrebt wird: Entwicklung nach innen. Im von der Zeitschrift «Bilanz» veröffentlichten Schweizer Städte-Ranking ist Schlieren mittlerweile auf den 20. Platz aufgestiegen.
Quelle: Hoff1980, CC BY-SA 4.0 Wikimedia Commons
Der neu gestaltete Stadtplatz in Schlieren mit dem roten Flügeldach.
Krise als Chance
Wie war dieser Wandel möglich? Am Tiefpunkt angelangt, nahm
die Stadt das Heft in die Hand. 2005 erarbeitete sie ein
Stadtentwicklungskonzept, das bereits die Siedlungsentwicklung nach innen
vorzeichnete. Schlieren sah in der Krise auch eine Chance. Dies erklärte
Stadtplanerin Barbara Meyer am Jahreskongress des Schweizer
Raumplanungsverbands Espace Suisse, der diesmal online als Webinar ausgerichtet
wurde. Die 36 Hektar Industriebrachen in Gehdistanz vom Bahnhof boten viel
Platz für Wohnraum, der im nahen Zürich fehlte oder nur teuer zu haben war.
Zudem befanden sich einige Schlüsselgrundstücke im Zentrum in städtischem
Besitz.
Die Zentrumsplanung, die Umnutzung der Brachen, die
Entlastung vom Durchgangsverkehr, der Ausbau des öffentlichen Verkehrs und die Aufwertung
des öffentlichen Raums: Das waren die fünf Hauptthemen des
Stadtentwicklungskonzepts. Die Stadt zögerte nicht und setzte die Massnahmen
Schritt für Schritt um. Nach einer rasanten baulichen Entwicklung entschied
sich die Stadt für eine Standortbestimmung, bevor sie 2016 das
Stadtentwicklungskonzept erneuerte. Die Neuauflage befasse sich mit der
qualitätsvollen Weiterentwicklung und Vernetzung bestehender Quartiere,
Verkehrsträger und Naherholungsräume, sagte Meyer. Anders als beim ersten
Stadtentwicklungskonzept wirkte die Bevölkerung diesmal in Planungsworkshops
direkt mit.
«Städtebau vor Architektur»
«Die Vorstellungen der Einwohner deckten sich mit der
Strategie des Stadtrats», so die Stadtplanerin. Am häufigsten gewünscht wurden
Massnahmen zur Verkehrsberuhigung, die Aufwertung des Bahnhofs, die Entwicklung
des Zentrums und die Erweiterung der Grünflächen. Auf der Basis des neuen
Stadtentwicklungskonzepts wurde ein kommunaler Richtplan erstellt. Im
Vordergrund stand die Sicherung der städtebaulichen Qualität. Meyer: «Städtebau
kommt vor Architektur.» In einer Stadt komme es zudem auf die Mischung an.
Entscheidend sei auch der öffentliche Raum. Weiter müsse eine gute Gestaltung
eingefordert werden. Und schliesslich müssten auch Planungsprozesse geplant
werden.
Eine Strategie bedinge eine beharrliche Umsetzung, erklärte
Meyer. Folgeplanungen seien notwendig. Eine Stadt oder Gemeinde brauche dafür
einen Kümmerer, und zwar inhouse. Wichtig sei es auch, die Bevölkerung
mitzunehmen. Rund 170 000 Franken liess die Stadt sich das neue
Entwicklungskonzept kosten. Gemäss Meyer handelte es sich um eine Investition
in die Zukunft. Eine kluge Strategie zu erarbeiten und umzusetzen, sei um ein
Vielfaches günstiger, als Fehlentwicklungen im Nachhinein zu beheben.
Die Strategie sei ein entscheidender Erfolgsfaktor für eine
gute Raumplanung: Dieses Fazit zogen die Fachleute am Jahreskongress von Espace
Suisse. Das zeige sich gegenwärtig bei der Umsetzung des revidierten
Raumplanungsgesetzes, sagte Damian Jerjen, Direktor von Espace Suisse. Die
Gemeinden müssten dabei unter anderem ihre Bauzonen an den Bedarf der nächsten
15 Jahre anpassen und die Entwicklung nach innen vorantreiben.
Eine Gemeinde brauche ein Zukunftsbild, bevor sie die Umsetzung eines raumwirksamen Projekts angehe – sei es, ein beschauliches Wohnquartier zu verdichten, einem ehemaligen Industrieareal neues Leben einzuhauchen oder einen öffentlichen Platz attraktiv zu gestalten. Wesentlich sei eine übergeordnete Sicht. Das Ziel sei es, die Grundlagen für ein besseres Zusammenleben zu schaffen, vor allem durch die Verbesserung des öffentlichen Raums und der Qualität des bebauten und unbebauten Raums.
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