10:24 BAUBRANCHE

Verkehrsplanung: Wenn die Lebensader im Dorf leidet

Teaserbild-Quelle: Ignacio Palomo Duarte, Unsplash

Hauptverkehrsstrassen zerschneiden die Ortskerne der Schweiz. Damit die Zentren wieder zum Herz der Dörfer werden können und sich motorisierter Verkehr und Fussgänger nicht in die Quere kommen, braucht es planerische Massnahmen für mehr Durchlässigkeit und Überlagerung der Nutzungen.

«Die Hauptverkehrsstrassen ziehen sich oft als ‹Achsen der Zerstörung› durch die Schweizer Dörfer», sagte Paul Hasler vom Team Netzwerk Altstadt der Espace Suisse an der Tagung «Lebendiger Ortskern trotz oder dank Verkehrsachse», die von Espace Suisse Anfang Jahr in Brugg organisiert worden ist. «Wir müssen weg von der Siebziger-Jahre-Logik, nur das Auto bringt den Wohlstand.»

Es ist ein Huhn-Ei Problem, mit dem zahllose Gemeinden konfrontiert sind: Der Detailhandel ist ist auf das Auto angewiesen. Jedoch zerschneidet zu viel Verkehr die Orte entlang ihrer wichtigsten Achsen. Sind die Läden nicht mehr mit dem Auto erreichbar, fürchten ihre Inhaber, Kunden zu verlieren.

«Historisch gewachsene Ortskerne liegen in der Regel an den Hauptachsen, die die Verbindungen zwischen den Gemeinden und Städten herstellen. Die Verkehrsachsen sind die Lebensadern der Gemeinde. Jeder Versuch, ihre Verbindungsfunktion mit ihrer städtebaulichen Funktion in Einklang zu bringen, birgt auch grosses Konfliktpotential», bringt Raumplaner Rainer Klostermann das Thema auf den Punkt. «Für mich ist ‹Kerntangente› fast schon ein Unwort. So lange die reinen Leistungsfähigkeit des individuellen motorisierten Verkehrs der absolute Vorrang eingeräumt wird, lässt sich der Stadtraum kaum noch gestalten.»

Mehr Dorfleben auf der Strasse

Statt dessen wäre es im Sinne attraktiver Ortszentren dringend geboten, «Sicherheit, Gestalt und Funktion der Strassenräume gleichwertig zu betrachten und integral zu planen», hält Rupert Wimmer, Raum- und Verkehrsplaner beim Tiefbauamt Zürich, fest. Das ist nur über einen aufwendigen Planungsprozess zu erreichen. Wenn ein solch anspruchsvolles Vorhaben Erfolg haben soll, müssen alle Stakeholder an einen Tisch zusammen kommen. Sie müssen sich genug Zeit für Bestandsaufnahme und Analyse nehmen.

Erst dann können sie daran gehen, Ziele zu definieren und erste Planungsschritte skizzieren. «Es ist kein Ziel, sondern eine Massnahme. Nicht die Massnahme, sondern die erwünschte Wirkung muss jedoch im Mittelpunkt stehen», nennt Klostermann einen der typischen Fallstricke. Rupert Wimmer ergänzt, dass der Strassenraum naturgemäss beschränkt ist: «Die zahlreichen Nutzungsansprüche an ihn können nicht immer addiert werden. Stattdessen ist Überlagerung anzustreben. Grundpfeiler dafür sind eine angebotsorientierte Verkehrsplanung und angepasste Geschwindigkeiten.»

Das lange übliche Vorgehen, zuerst die Flächen für den motorisierten Individualverkehr festzulegen, auf dem verbleibenden Raum den öffentliche Nahverkehr zu platzieren und den Fussgängern zu überlassen, was übrig bleibt, ist mittlerweile überholt. In den meisten Fällen ist im Grunde nicht die Menge an Verkehr das wahre Problem, sondern ihre Lenkung. Es braucht integrierte Strassen, wenn mehr Dorfleben auf der Strasse möglich werden soll.

Von den Verhältnissen wie diesen in Tokio ist man in der Schweiz noch weit entfernt.

Quelle: Ignacio Palomo Duarte, Unsplash

Von den Verhältnissen wie diesen in Tokio ist man in der Schweiz noch weit entfernt.

Leere Ladenlokale laden nicht zum Bummeln ein

Martin Eggenberger vom Team Netzwerk Altstadt von Espace Suisse formuliert das so: «Ein Ort braucht ein Herz, er braucht ein Wohnzimmer. Fehlt es, überlebt das Zentrum nicht». Es sei häufig ein schwieriger Prozess, das in den Gemeinden zu erkennen. Und ein noch schwierigerer, das auch durchzusetzen. Dabei ist die Gelegenheit günstig wie selten: Die Leerstände entlang der längst nicht mehr zum Bummeln einladenden, hochfrequentierten Strassen sind hoch wie nie.

«Das ist kein Schnupfen, sondern ein Trend. Dieser Trend bietet Chancen», sagt Hasler. Der Umbruch im Handel macht neue Nutzungen der ehemaligen Läden möglich, sofern alle an einem Strang ziehen. Auch hier ist die wichtigste Voraussetzung, dass die Beteiligten miteinander reden und sich darüber einig werden, wohin der Weg gehen soll.

Hasler betont, dass entscheidend sei, die Eigentümer der Liegenschaften mit ins Boot zu holen: «Eine Planung, die das Ortszentrum grundlegend verändern soll, muss eine Planung von Fassade zu Fassade sein. Erst wenn eine Vision da ist, die alle mittragen können, investieren die Eigentümer auch wieder in ihre Gebäude.»

Auch das Grün gehört dazu. «Wenn man grundlegend erneuern will, darf man auch beim Grün nicht vergessen, dreidimensional zu denken», merkt Rainer Klostermann an. «Bäume brauchen ausreichend Platz im Untergrund. Städte wie Zürich oder Bern zum Beispiel sind sehr intensiv an diesem Thema dran.»

«Boulevard Kreuzlingen»

«Die» Lösung gibt es ohnehin nicht. So wenig wie es einen «Normquerschnitt» gibt, der alle Funktionen ideal vereint. Jeder Ortskern ist ein historisch gewachsenes Unikat. Wie auch immer die Lösung aussieht – idealerweise überlagern sich in ihr die verschiedenen Nutzungen.

Sandro Nöthiger, Leiter Tiefbau der Bauverwaltung Kreuzlingen berichtet, wie man diese Überlagerung in Kreuzlingen umgesetzt hat. Die Ausgangssituation glich der in vielen Orten: vielbefahrenen Hauptstrasse mit Geschäften auf beiden Seiten. Entlang der Strassenränder zogen sich auf beiden Seiten Längsparkplätze. Die Fussgänger hatten Schwierigkeiten, die Strasse zu queren. Die Nutzung des Strassenraums war linear getrennt, die Aufenthaltsqualität längst auf der Strecke geblieben. «Zudem gab es gestalterische Defizite und die Situation für die Velofahrer war bestenfalls prekär», ergänzt Nöthiger.

Kurz: Es brauchte einen Neustart, um das Zentrum aufzuwerten. Einfach war das nicht. Aufenthaltsqualität verbessern, Durchgangsverkehr vermeiden, Einkaufsverkehr zulassen – all das war schwer unter einen Hut zu bringen. Erster Schritt war eine Volksabstimmung: Für die Neugestaltung musste ein Kredit von 3,85 Millionen Franken bewilligt werden. Intensive Öffentlichkeitsarbeit war nötig. Also mietete die Gemeinde ein leerstehendes Ladenlokal direkt an der Hauptstrasse und nutzte dieses als «Infostand».

Das fruchtete. Die Volksabstimmung brachte 2009 fast sechzig Prozent Ja-Stimmen. Das Ziel der Umgestaltung war, ein «Boulevard»-Gefühl zu erzeugen. Der «Boulevard Kreuzlingen» wurde durch einheitlichen Strassenbelag, Möblierung und Bäume ansprechend gestaltet. Auch eine taktile Führung für Sehbehinderte in Form eines leicht abgeschrägten Randsteins entlang der für Fussgänger vorgesehenen Zone wurde integriert. Dieser dient als gestalterisches Element und gleichzeitig als Alternative zu den klassischen weissen Führungslinien.

Fünf-Minuten-Parkplatz Kreuzlingen

Quelle: Gemeinde Kreuzlingen

Eine Kreuzlinger Eigenkreation, die sehr gut funktioniert: der Fünf-Minuten-Parkplatz für alle, die nur kurz zum Bankomaten oder etwas abholen wollen.

Parkplätze: Fünf Minuten das Auto abstellen

Die Fahrbahn wurde zwar auf fünf Meter verschmälert, das Lichtraumprofil von 6.40 m jedoch eingehalten. Parkplätze wurden neu nur noch seitlich alternierend angelegt. Prompt gab es Einsprachen. «Bei den Parkplätzen hört manchmal die Vernunft auf. Bei jedem Projekt haben wir einzelne, die einfach die Parkplätze bei den verschiedenen Varianten zählen und sich dann für die mit den meisten Parkplätzen entscheiden», erzählt Nöthiger.

Nach intensiven Gesprächen mit den Anstössern wurden sämtliche Einsprachen zurückgezogen. Flyer informierten die Bevölkerung über die neue Verkehrssituation. Es gab sogar extra einen zum Thema «Gratis parkieren im Zentrum», der auf einer Karte kostenlose Parkiermöglichkeiten aufzeigte. Zudem liessen sich die Kreuzlinger für Kurzparker, die etwa nur schnell zum Bankomaten wollen, etwas einfallen: die Fünf-Minuten-Parkplätze mit knallgelber Markierung. «Es gibt dafür natürlich keinerlei rechtliche Grundlage. Aber sie funktionieren gut. Und darauf kommt es an», sagt Nöthiger.

2011 konnte der «Boulevard Kreuzlingen» eröffnet werden. Das Verkehrsaufkommen reduzierte sich von täglich 13000 Fahrzeugen auf im Schnitt 8000. Zufrieden waren die Kreuzlinger trotzdem nicht. Nöthiger räumt ein, dass der Begriff «Boulevard» bei der Bevölkerung nach wie vor belastet ist. Immer wieder hat die Gemeinde versucht, den Verkehr durch Signalisation weiter zu reduzieren. Immer wieder mussten diese Versuche wegen massiven Widerstands eingestellt werden.

2013 kam doch noch eine Initiative für einen autofreien Boulevard zustande. Allerdings wehrten sich Anwohner und Gewerbe wiederum erfolgreich und gingen bis vor Bundesgericht. Im Oktober 2019 hat Kreuzlingen die letzte Versuchsphase abgebrochen. Noch ist keine Lösung gefunden. Nöthigers Fazit: «Eine solche Veränderung braucht Zeit. Es muss ein Umdenken stattfinden. Die Diskussion zum Verkehrsaufkommen kam aus heutiger Sicht viel zu früh und die Erwartungen waren zu hoch. Aus fachlicher Sicht funktioniert die Begegnungszone.»

In Thun ersetzt eine blaue Welle den Fussgängerstreifen

Auch im vom Verkehr überrollten Thun hat man Neues versucht. Die von den Aarearmen umschmiegte Altstadt ist zwar wunderschön auf einer Halbinsel gelegen, hat aber naturgemäss ein Platzproblem. Lange waren die vier Hauptbrücken überlastet. Eine 2017 in Betrieb genommene Umfahrung, der Bypass Thun Nord, konnte die Frequenz auf den Brücken um vierzig Prozent senken, wie Konrad Hädener, Vorsteher der Direktion Bau und Liegenschaften, berichtet. Die Situation ist heute deutlich entspannter als auch schon.

An der Tagung zeigte Hädener auf, wie es Thun noch vor Inbetriebnahme des Bypasses gelungen ist, die Fussgängerquerungen in der hochfrequentierten Innenstadt besser in den motorisierten Verkehr zu integrieren. Durch die konzentrierten Fussgängerströme stockte der Verkehrsfluss dort in Stosszeiten noch zusätzlich. «2011 hatten wir an der Haupteinkaufsstrasse 600 Fussgängerquerungen und 1100 Fahrzeuge pro Stunde», fasst Hädener die damalige Situation zusammen, «allein der Verkehrsdienst kostete uns 70000 Franken pro Jahr.»

Es brauchte entschlossene Massnahmen. So entschied sich Thun für die konsequente Aufhebung der Fussgängerstreifen. Statt dessen wurde eine eine farblich markierte Mittelzone als Querungshilfe geschaffen. Die signalisierte Höchstgeschwindigkeit für den motorisierten Verkehr blieb unverändert bei 50 Stundenkilometern. Der Verkehrsfluss stieg durch diese Massnahmen merklich, da das Stocken des Verkehrs, das jeder Fussgängerschwall beim Queren verursacht hatte, nun wegfiel.

Bereits ein Jahr vor Beginn der Bauarbeiten hatte die Stadt mit der Öffentlichkeitsarbeit begonnen. «Die Stammtischdiskussionen nahmen umgehend Fahrt auf», so Hädener, «die Frage war immer dieselbe: Darf man das? Und funktioniert das?» Denn Thun hatte sich eine ganz eigene Lösung ausgedacht. Die Mittelzone für die Fussgänger unterschied sich deutlich vom üblichen.

Die Aare-Stadt malte eine 160 Meterlange und 1.80 Meterbreite blaue Welle mitten auf die Strasse. Entsprach das noch Artikel 33 des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) «Den Fussgängern ist das Überqueren der Fahrbahn in angemessener Weise zu ermöglichen»? Die Meinungen am Stammtisch klafften, wie zu erwarten, auseinander, wie Hädener sich erinnert.

Verkehrsmessungen ergaben jedenfalls, dass das Ganze funktioniert. Die von 85 Prozent der Fahrzeuge nicht überschrittene Geschwindigkeit liegt laut Hädener tagsüber bei 25 Stundenkilometern, in der Ganztagesbetrachtung bei 30 Stundenkilometern. Die Querungs- und Durchfahrtszeiten sanken deutlich. Die Fussgänger überqueren die Strasse auf der ganzen Länge der Wellen, was die Stop-and-go-Situationen für die Autofahrer deutlich reduziert. Und besonders erfreulich, so Hädener: «Obwohl rein rechtlich der motorisierte Verkehr Vortritt hätte, weil ja keine Fussgängerstreifen mehr da sind, ist die Anhaltebereitschaft hoch. Und das Geld, das uns der Verkehrsdienst bisher gekostet hat, können wir uns jetzt schlicht sparen.»

Günstig war die Lösung auf jeden Fall: «Die Ausführung der Malerarbeiten kostete 40000 Franken, die Öffentlichkeitsarbeit dafür nochmals denselben Betrag und das Aufgleisen des Projektes an sich 50000 Franken», so Hädener. Künftig rechnet Thun mit 10000 Franken für die Erneuerung der Farbe alle zwei Jahre.

Blaue Welle in Thun, Querungshilfe für Langsamverkehr

Quelle: Stadt Thun

Die Thuner Lösung: Die «blaue Welle» als Querungshilfe für den Langsamverkehr zieht sich auf 160 Metern durch die Innenstadt. Als Ausgleich wurden die Fussgängerstreifen entfernt. Die Anhaltebereitschaft der Autofahrer ist sehr gross und Verkehrsstockungen durch querende Fussgängergruppen wurden markant seltener.

Baustellen sorgten für Unmut

Lediglich an einer Bushaltestelle musste nachgerüstet werden. Wenn dort der Bus stand und kein Gegenverkehr in Sicht war, verleitete das so manchen Automobilisten zum rasanten Überholen. «Dort haben wir die Situation durch den Bau einer klassischen Verkehrsinsel entschärft», erzählt Hädener abschliessend.

Ganz ohne Gegenwind wellt sich auch das blaue Band aber nicht durch die Stadt. Eine passende Schlagzeile fand die Berner Zeitung im August 2019: «Blaue Welle sorgte für rote Köpfe». Im Artikel geht es um die Rückweisung eines Bauprojekts. Dessen Ziel war, das flächige Queren über blaue Wellen auch zwischen Bahnhofbrücke und Bälliz auf zwei weiteren Teilstücken mit 45 beziehungsweise 30 Metern Länge einzuführen.

Das Problem war nicht die Welle an sich. Den Thunern hatte es nach reger Strassenbautätigkeit im 2018 und 2019 einfach zu viele Baustellen aufs Mal. Da wollte das Stadtparlament mit 20 : 18 Stimmen besser nicht auch noch, das Wortspiel liegt nahe, eine zusätzliche Welle machen. Sie muss warten. Einfach provisorisch eine aufmalen kann man nicht. Zu gross wäre die Querungsdistanz ohne Umbaumassnahmen.

Geschrieben von

Regelmässige freie Mitarbeiterin für das Baublatt. Ihre Spezialgebiete sind Raumplanung, Grünräume sowie Natur- und Umweltthemen.

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