08:00 BAUBRANCHE

Tage des Denkmals 2024: Denkmäler zeigen, wie vernetzt wir sind

Geschrieben von: Manuel Pestalozzi (mp)
Teaserbild-Quelle: Manuel Pestalozzi

Am Wochenende 7./8.September gingen die diesjährigen Europäischen Tage des Denkmals über die Bühne. An vielen Veranstaltungen konnten sich Interessierte mit dem Thema «Vernetzt» auseinandersetzen. In Mühleberg BE ging es um Spuren, welche die Erzeugung elektrischen Stroms in Landschaft und Gesellschaft hinterlassen.

Mühleberg Stromleitungen

Quelle: Manuel Pestalozzi

Der Himmel über Mühleberg wird von Stromleitungen durchkreuzt. Zur Skyline gehören nebst Dächern und dem Kirchturm auch Strommasten.

Erneut fanden die Europäischen Tage des Denkmals am ersten kompletten Septemberwochenende statt. Und wie im vergangenen Jahr war es auch heuer heiter und sehr warm. Alle, die gerne eine Reise zu historischen Stätten antreten, durften frohlocken. 400 Veranstaltungen in allen 26 Kantonen und Liechtenstein registrierte die Nationale Informationsstelle zum Kulturerbe, rund 40000 Besucherinnen und Besucher wurden ihr am Schluss rapportiert. Der Transport und sein Drum und Dran standen unter dem Motto «Vernetzt» im Fokus des Anlasses. So waren neben dem Besuch spezifischer Bauwerke auch Wanderprogramme entlang historischen Verkehrswegen im Angebot.

Strom braucht Personal

Eine Vernetzungs-Aufgabe ist auch die Versorgung mit elektrischem Strom. Sie hat nicht nur sehr auffällige, sondern auch weitreichende bauliche Auswirkungen. Ihnen war eine Veranstaltung vom Berner Heimatschutz Region Mittelland in der Gemeinde Mühleberg westlich von Bern gewidmet. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln führte die Anreise zuerst in der S-Bahn zum Einkaufszentrum Westside. Im Postauto ging es weiter durch eine teilweise bewaldete Hügellandschaft. Zuerst mit Blick ins Alpenpanorama, Minuten später mit der Jurakette am Horizont. Die Haltestelle des Treffpunkts befand sich bei einem isolierten Weiler am Waldrand. Ihr Name hatte bereits einen Bezug zur Veranstaltung: Fuchsenried, Mühlebergwerk. Der zweite Teil weist nicht auf ein Bergwerk hin, sondern auf das Werk Mühleberg, das elektrischen Strom erzeugt und dessen Nähe hier nur durch diverse Hochspannungsleitungen erahnt werden kann.

Keine Verwirrung stiftet der Name der Gemeinde: Nomen est Omen. «Es gab hier viele Mühlen», erklärte Raphael Sollberger. Der Architekturhistoriker gehörte zum mehrköpfigen Team, welches die Anreisenden im Fuchsenried empfing und die Führung betreute. Die Wasserkraft war immer ein Standortvorteil. Und das Wasser war auch schon zu erkennen: Durch den Waldrand, tief unterhalb der Haltestelle funkelte der Wohlensee, die vom Kraftwerk aufgestaute Aare, durchs Geäst zum Fuchsenried empor. Beim genauen Hinsehen konnte man in der Ferne ein Skiff herangleiten sehen. «Die durch den Kraftwerkbau geschaffene künstliche Natur ist hier auch ein sehr beliebtes Naherholungsgebiet», sollte Raphael Sollberger später in seiner Einführung bestätigen. Hinzu kommt: Mühleberg ist nicht nur eine Strom-Produktionsstätte, die Gemeinde bietet auch Lebensraum für Teile des Kraftwerkpersonals. Dieses Thema wollte man an der Veranstaltung etwas vertieft angehen.

Wasserkraftwerk Mühleberg 1925

Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Die historische Aufnahme des Wasserkraftwerks Mühleberg stammt aus dem Jahr 1925. Direkt über der Anlage ist die Siedlung Chräjeberg für die Angestellten erkennbar.

Wasserkraftwerk Mühleberg

Quelle: Manuel Pestalozzi

Zum geschützten Baubestand des Wasserkraftwerks gehört auch die Stahlkonstruktion des Schiffhebewerks und der Sichtbetonpavillon des Grundablassstollens.

Die Besichtigungstour erfolgte, für den Anlass sehr treffend, in einem historischen Postauto, das heute als «Poschi» von privater Seite betrieben wird. Der gelbe Saurer RH, Eingeweihte nennen ihn den «letzten reinen Schweizer Bus», brachte die knapp zwanzigköpfige Gruppe hinab zum Wasserkraftwerk mit seinem Stauwehr, über das auch eine Strasse verläuft. Die mit klassizistischen Elementen angereicherte frühe Sichtbetonanlage entstand zwischen 1917 und 1920, als Architekt wurde der Berner Walter Bösiger bestimmt. Bauherrin war die Bernische Kraftwerke AG, welche die Anlage als BKW Energie AG bis heute betreibt. Zum Bauumfang der heute unter Schutz stehenden Anlage gehörten auch ein kleines Schiffshebewerk am Stauwehr und direkt davor ein Grundablassstollen, der in einem schmucken Sichtbetonpavillon versteckt ist. So ergibt sich ein stimmiges technisch-architektonisches Ensemble, ein anmutiges Gegenüber zur künstlichen Naturlandschaft des Wohlensees mit seiner allseits geschätzten Vogelwelt. Das schwach hörbare Summen der Dynamos gehört zur Hintergrundmelodie der Landschaft.

Die nächste Station der Tour war die erste Strassenverzweigung auf dem Weg zurück, hoch zum Fuchsenried. Auf einer Lichtung am Hang baute die BKW hier gleichzeitig mit dem Wasserkraftwerk eine Werkssiedlung, die den Namen Chräjenberg erhielt, auch sie ein Werk von Architekt Bösiger. Sie ist durch den Höhenunterschied und einen Waldstreifen vom Kraftwerk optisch getrennt und bietet den Bewohnern eine ländliche Idylle, in der man nicht gleich mit Masten und Leitungen konfrontiert wird. Chräjenberg besteht aus sechs schlichten Doppeleinfamilienhäusern und einem freistehenden Obermaschinistenhaus, das im Gegensatz zu den oben mit Brettern verschalten Fachwerkbauten als Massivbau mit eigenem Bad ausgeführt wurde. Die recht schlichten, mit Krüppelwalmdächern gedeckten, gut unterhaltenen Häuser erhielten auch Pflanzgärten zur Selbstversorgung, deren Einfriedung nach wie vor den Charakter der geschützten Kleinsiedlung mitprägen.

Die Verzweigung bei der Siedlung führt zum Kernkraftwerk Mühleberg, das unterhalb des Stauwehrs bei der Aare auf einer benachbarten Waldlichtung steht. Es wurde 1972 in Betrieb genommen und 2019 stillgelegt. Die Tour erlaubte einen Augenschein aus der Distanz. Die Anlage wirkt von aussen noch intakt, im Inneren sind Rückbauarbeiten im Gang. Aus denkmalpflegerischer Sicht weiss man noch nicht, wie man mit der Anlage umgehen soll. Ein Mahnmal, vielleicht? «Die Anlage ist kontaminiert und enthält Altlasten», gab Anne-Catherine Schröter, welche durch diesen Abschnitt der Veranstaltung führte, zu bedenken. Das endgültige Schicksal des Bauensembles ist noch offen.

Werksiedlung Chräjeberg

Quelle: Manuel Pestalozzi

Die Doppeleinfamilienhäuser der Werksiedlung Chräjeberg sind von eingefriedeten Nutzgärten umgeben.

Company Town nach Berner Art

Der Weg führte zurück zum Fuchsenried, und das Begleitteam bestätigte auf Anfrage die Vermutung, dass auch hier Wohnhäuser der BKW für sein Personal stehen. Sie stammen sie aus den 1950er-Jahren und erinnern mit ihrem zurückhaltend rustikalen Stil ans Landidörfli. Weiter ging die Fahrt nach Südwesten, unter der A1 hindurch, welche das Gemeindegebiet durchschneidet. Ziel war das «Atomdörfli». So nennt der Volksmund die Siedlung Steinriesel, welche die BKW in den späten 1960er-Jahren für das Personal des Kernkraftwerks errichtete. Sie besteht aus sieben Mehrfamilienhausreihen mit insgesamt 57 Wohnungen, einer Einfamilienhausreihe und einem Doppeleinfamilienhaus, dem einzigen Flachdachbau der Siedlung, die durchgehend zweigeschossig ist. Sie wurde von der Architektengemeinschaft Mäder + Brüggemann, Lienhard & Strasser zusammen mit Gottfried Rüedi sorgfältig in die Landschaft eingepasst, mit einem sanft gewellten Aussenraum und einem zentralen «Dorfplatz». Am Südrand wurde ein Landstreifen für Familiengärten hergerichtet.

Architekturhistorikerin Jasmin Christ und der langjährige Bewohner Heinrich Bosshard, einst ein Angestellter im Kernkraftwerk, begrüssten die Teilnehmenden vor der Einfahrt zur Tiefgarage und leiteten sie über das Terrain. Die Siedlung ist etwas abgelöst vom leicht höher liegenden historischen Ortskern an der alten Hauptstrasse Bern-Murten. Der kürzeste Weg zum Standort des Kernkraftwerks ist jener, welcher zuvor das «Poschi» unter die Räder genommen hatte. Er beträgt rund 3,5 Kilometer. Schichtdienst und Pikett hatten Einfluss auf die Architektur, besonders auf die Schlafzimmer. «Sie erhielten alle einen Telefonanschluss und zwei Türen, so dass man bei Schichtbetrieb die Schlafenden nicht zu sehr störte», erklärte Jasmin Christ. Heinrich Bosshard konnte nur Positives erzählen: «Für die Kinder war es hier ganz toll», meinte er, seine eigenen hätten es ihm als Erwachsene immer wieder bestätigt. Im Aussenraum gab es für sie sogar einen kleinen Schlittelhügel, «wie im Tscharni», meinte Jasmin Christ. Man habe ihn modelliert nach dem Vorbild in der Grosssiedlung Tscharnergut in der Stadt Bern, an dem Teile des Entwurfsteams mitgearbeitet hatten. Das Zusammenleben mit der angestammten Bevölkerung erlebte Heinrich Bosshard als harmonisch, vor allem dank der Vereine. Die sehr gepflegt wirkende Siedlung präsentiert sich heute weitgehend in ihrem Originalzustand. Sie steht nicht unter Schutz. Eine Anstellung bei der BKW ist für den Abschluss eines Mietvertrags keine Bedingung.

Siedlung Steinriesel

Quelle: Manuel Pestalozzi

Die Fahrt im «Poschi» führte zur Siedlung Steinriesel. Das «Atomdörfli» für die Angestellten ist noch weitgehend im Ursprungszustand.

Atomdörfli Mühleberg BE

Quelle: Manuel Pestalozzi

Auch nach der Stilllegung des Kernkraftwerks scheint das gepflegte «Atomdörfli» ein perfektes Idyll zu repräsentieren.

Mittlerweile war allen Beteiligten klar, dass die BKW einen grossen Einfluss auf die Entwicklung von Mühleberg nahm und hier auch auf dem Wohnungsmarkt eine Rolle spielt. Als man noch erfuhr, dass das Unternhmen sich auch finanziell am Bau einer neuen Schule beteiligte, musste man an die Tradition der Company Towns denken, an jene Siedlungen also, die von Fabrikherren für ihre Belegschaften errichtet wurden, wie etwa Pullman in den USA oder Port Sunlight in England. Sie wurden im 19.Jahrhundert komplett auf dem Reissbrett entworfen und auf der grünen Wiese errichtet. 

In Mühleberg ist die Situation natürlich eine ganz andere. Das Dorf gab es schon, und man erhält den Eindruck, dass man sich alle Mühe gab, dessen Charakter durch die Neuzuzügerinnen und -zuzüger nicht zu verändern. Anstatt eines Quartiers entstanden diverse kleine «Siedlungsspritzer», die über weite Teile des Gemeindegebiets verstreut sind. Sie gehören zwar dazu, doch es besteht zumindest räumlich eine Distanz. Man verzichtete auch auf eigene Gemeinschaftseinrichtungen; in der Freizeit stand es den Angestellten frei, ihr Leben so zu gestalten, wie sie wollten. Ihre Arbeitgeberin liess sie in Ruhe. In diesem Sinne ist Mühleberg mit seinen neuen Weilern im grünen Hügelland eine Company Town nach Berner Art, was der konstanten politischen Brisanz der energetischen Versorgungssicherheit auch am besten entspricht.

Die Tour endete dort, wo sie begonnen hatte: bei der Haltestelle im Fuchsenried. Das Betreuungsteam hatte einen Tisch aufgestellt, auf dem sie die Publikationen vom Berner Heimatschutz Region Mittelland zum Verkauf anboten – insbesondere der frisch gedruckte Band 4 ihrer Buchserie «BauKulturErbe». Er setzt sich mit Mühleberg und den auf der Tour besuchten Orten intensiv auseinander. Hingewiesen wurde auf «Architektouren», die mit dem «Poschi» und einem historischen Gelenkbus auch nach den Europäischen Tagen des Denkmals zu interessanten historischen Orten führen. Der Anlass zeigte, dass das Thema «Vernetzt» räumlich und auch zeitlich schwer einzugrenzen ist. Gerade deshalb war die Momentaufnahme in Mühleberg sehr wertvoll.

Geschrieben von

Freier Mitarbeiter für das Baublatt.

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