10:03 BAUBRANCHE

Nutzlose Hilfsstützen

Teaserbild-Quelle: Hochbauamt Stadt Zürich

Der Konflikt zwischen der Stadt Zürich und der Implenia Generalunternehmung verschärft sich: Der Baukonzern fordert mit einer Klage von der Stadt Nachzahlungen von 22,9 Millionen Franken. Zürich will nicht zahlen und behauptet, die Sicherheit des Dachs sei nicht gewährleistet. Implenia widerspricht und wirft Panikmache vor.

Hochbauamt Stadt Zürich

Quelle: Hochbauamt Stadt Zürich

Die Hilfsstützen für das Letzigrund-Dach sind nach Ansicht namhafter Experten unnötig.

So stellt man sich eine glückliche und vertrauensvolle Partnerschaft wirklich nicht vor: Vor zwei Jahren waren die Implenia Generalunternehmung und die Stadt Zürich ein Herz und eine Seele und sichtlich stolz auf ihr gemeinsames Kind, das neue Letzigrund-Stadion. Heute, zwei Jahre später, ist die Partnerschaft schwer zerrüttet. Den vorläufigen Höhepunkt des Konflikts bildete eine Medienkonferenz der Stadt Zürich Anfang Juni, in welcher der frisch gewählte Hochbau-Stadtrat André Odermatt schwere Vorwürfe an Implenia richtete: Das Stadion weise viele Material- und Fertigungsmängel auf, die ein Sicherheitsrisiko darstellten. Der Baukonzern habe zudem alle Mängel bestritten und die Stadt unzureichend darüber informiert. «Das Vertrauen gegenüber der Totalunternehmung ist aus diesem Grunde nicht mehr intakt», sagte Odermatt. Die Stadt Zürich will nun das Letzigrund-Stadion in Eigenregie sanieren. Doch zuvor sollen Belastungstests an den Dachträgern durchgeführt werden. Erst nach erfolgter Sanierung will die Stadt die Hilfsstützen entfernen. Ziel ist, die Tests und Arbeiten bis zum Beginn der Fussballsaison über die Bühne zu bringen. Die Kosten für die Aktion sollen Implenia aufgebürdet werden.

Rufschädigende Vorwürfe

Einen Tag später konterte die Erbauerin des Letzigrund-Stadions mit einer eigenen Medienorientierung. «Die Vorwürfe der Stadt sind schädigend, falsch und irreführend», sagte der CEO von Implenia Anton Affentranger und ergänzte: «Wir waren überrascht, dass wir über die Medien von den Vorwürfen der Stadt erfahren haben.» Affentranger unterstrich, dass Sicherheit für die Geschäftspolitik von Implenia zentral sei: «Mit der Sicherheit spielen wir nicht.» Deshalb hat der Baukonzern die Stabilität der Dachkonstruktion von drei führenden Experten für Statik und Konstruktion prüfen lassen: Peter Marti, Professor am Institut für Baustatik und Konstruktion der ETH Zürich, Markus Feldmann, Professor für Stahlbau und Leichtmetallbau an der Technischen Hochschule in Aachen und Hans-Jakob Schindler; Spezialist für Bruchmechanik und Inhaber einer Firma für Werkstoffprüfung und Beanspruchungsfragen in Winterthur. Ihre Schlüsse sind eindeutig: Das Letzigrund-Stadion war und ist sicher und die Vorwürfe der Stadt entbehren jeder Grundlage. Die Hilfsstützen sind nicht notwendig und können umgehend entfernt werden. Die drei Experten haben diese Überzeugung in einer Empfehlung an die Stadt mit ihrer Unterschrift bestätigt. Ebenfalls unterschrieben hat die Empfehlung der für die Berechnungen verantwortliche Ingenieur Carlo Galmarini.

Hilfsstützen müssen weg

Die 31 Hilfsstützen für das Stadiondach, welche die Stadt Zürich vor rund drei Monaten hat setzen lassen, sind nach einhelliger Meinung der Experten nicht nur unnötig, sondern könnten sich sogar als schädlich erweisen. Diese sind an den Binderspitzen angeschweisst und auf dem Boden abgestützt. Dadurch kann das Dach, anders als in den Berechnungen vorgesehen, sich nicht mehr frei ausdehnen oder zusammenziehen. «Die Stützen könnten damit Druckbelastungen ausgesetzt sein, die niemand kennt» warnte Rafael Brogna, Mitglied der Geschäftsleitung von Implenia Real Estate, und forderte, dass diese sofort und sorgfältig zu entfernen seien. Die von Implenia zugesicherte Mängelbehebung wirke zudem nur, wenn die Hilfsstützen entfernt seien. Er stützte sich dabei auf die Aussage von ETH-Baustatiker Marti, welcher empfiehlt: «Deshalb und im Sinne der Schadensminderung gemäss Norm SIA 118 sollten die Stützen so bald wie möglich entfernt werden.» Noch deutlicher wird Stahl-Experte Feldmann: «Offensichtlich üben die Hilfsstützen über den Temperaturzwang alle 24 Stunden einen nicht unerheblichen Belastungszyklus aus die Binderstruktur aus.» Er vermutet sogar, dass diese Belastung Risse in der Dachkonstruktion verursachen könnte. Genau umgekehrt will die Stadt Zürich vorgehen: Erst die Mängel beheben, dann Belastungstests durchführen und zuletzt die Hilfsstützen entfernen.

Immer informiert

Brogna widersprach der Behauptung der Zürcher Baubehörden, der Baukonzern habe die Stadt unzureichend informiert: «Die Stadt war jederzeit über die Fakten im Bild. Implenia hat nie behauptet, es gebe am Stadion keine Baumängel und sich auch nie geweigert, diese zu beheben.», unterstrich er. Mitte Mai hat Implenia der Stadt schriftlich ihre Bereitschaft bestätigt, jeden festgestellten Mangel nachzubessern und hat dazu ein Konzept vorgelegt. Zürich beharrte jedoch auf einer Gesamtsanierung des Stadions.

Kein Sicherheitsrisiko

Dieser Konflikt über allfällige Baumängel am Letzigrund-Stadion verwirrt: Denn die Stadt macht geltend, die von ihr beanstandeten Mängel seien zugleich ein Sicherheitsrisiko. Dem widersprach Brogna entschieden: « Zwischen den Baumängeln und der Sicherheit der Dachkonstruktion des Stadions besteht kein Zusammenhang.» Implenia dokumentierte dies mit der Publikation der Mängelliste: Wohl sind darin unter anderem Beschädigungen des Korrosionsschutzes sowie ein Riss im Zugknoten des Binders Nummer 15 protokolliert, doch keiner dieser Mängel hat nach Aussage der Experten Auswirkungen auf die Tragsicherheit. «Kein Dachträger ist defekt und die Stahlqualität ist besser, als in der Ausschreibung verlangt. Die Stadt schürt Panik», warf Brogna den Zürcher Behörden vor. Die Behebung der Mängel würde weniger als eine Million Franken erfordern. Und im Februar hat Implenia ihre Garantie auf das Letzigrund-Stadion sogar verlängert.

Flut von Änderungswünschen

Das muss man sich erst einmal vorstellen: Die Grundlage für die Bauausschreibung des neuen Letzigrund-Stadions ist in 32 Ordnern festgelegt. Die Sportstätte wurde von der Stadt Zürich zuerst bis ins Detail geplant, bevor die Planungsunterlagen Implenia als Generalunternehmung zur Ausführung übergeben wurden. «Ein solcher Detaillierungsgrad suggeriert eine Ausführungsplanung. Doch dann kamen unzählige Planungsanpassungen und Änderungswünsche, insgesamt 1392», sagte Brogna. Der Baukonzern habe nicht damit rechnen können, dass in der zweiten Phase des Stadionbaus von der Bauherrin noch so viele Anpassungen verlangt wurden, vor allem angesichts des hohen Termindrucks. Die schiere Masse dieser Anpassungen habe zu Mehrkosten von 37 Millionen Franken geführt. Neun der insgesamt 120 Millionen hat Implenia auf eigene Rechnung übernommen, um die termingerechte Einweihung des Stadions sicherzustellen. Auf 22,9 Millionen Franken beläuft sich der offene Betrag in der Schlussabrechnung. Und diesen fordert nun Implenia mit einer Klage von der Stadt Zürich ein.

Keine Einigung

«Wir haben bis zu letztmöglichen Termin eine Einigung mit der Stadt Zürich gesucht, doch diese weigerte sich, über die angefallenen Mehrkosten zu sprechen», beteuerte Implenia-CEO Affentranger. Seit Frühling 2007 wissen nämlich die Zürcher Baubehörden von den Mehrkosten und seit Spätsommer 2008 hat Implenia eine einvernehmliche Lösung gesucht. Seit Herbst 2009 hat nach Auffassung von Implenia die Stadt «gezielt nach so genannten Baumängeln» gesucht und zu beweisen versucht, dass das Stadion nicht gebrauchsfähig sei. Gleichzeitig negiert die Stadt die Empfehlungen namhafter Experten. In diesem Zusammenhang seien auch die Anschuldigungen der Stadt gegenüber dem Baukonzern zu interpretieren, sagte Affentranger.

Der Konflikt verlagert sich damit zuerst einmal in die Anwaltskanzleien und später in die Gerichtssäle. Wie der Anwalt von Implenia Roland Hürlimann von Baur Hürlimann Rechtsanwälte gegenüber dem «baublatt» ausführte, werden mehrere Jahre ins Land ziehen, bevor ein erstes Urteil vorliegt. Massimo Diana

Das meinen die Experten

Baustatik und Normenprüfung

Peter Marti, Professor für Baustatik und Konstruktion, ETH Zürich

Massgeblich sind laut Marti die Tragwerksnormen SIA 260 bis 267 sowie die ergänzenden Feststellungen gemäss SIA 261/1 bis 267/1. Marti kommt zum Schluss, dass die Tragsicherheit des Stadiondachs stets gewährleistet war und ist. Der Riss an Träger 15 ist erklärbar und wird sich nicht weiter vergrössern: «Für den Binder 15, der im Mittelsteg bei der Zugstütze einen Riss aufweist, untersuchte ich einen alternativen Lastpfad mit Kraftabtragung über die beiden Aussenstege und den oberen Teil des Mittelstegs. Ich kam zum Schluss, dass die Tragsicherheit trotz des vorhandenen Risses gewährleistet ist. (…) Die (…) Idee einer Abstützung aller 31 Binderspitzen beurteilte ich als unnötig. (…) Die auf Anordnung der Stadt Zürich (…) gestellten Stützen an den Binderspitzen waren und sind statisch unnötig.»

Stahlbau

Markus Feldmann, Professor für Stahlbau, Technische Hochschule Aachen

Gemäss Feldmann ist die stählerne Dachkonstruktion nach den Regeln der Technik richtig bemessen und konstruiert worden. Die überprüften Konstruktionsteile entsprechen den technischen Regeln hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit und ihrer Gebrauchstauglichkeit. Geometrische oder werkstoffliche Oberflächenunregelmässigkeiten an den Blechkanten sind ohne Bedeutung. Die Hilfsstützen sind nicht notwendig und sollten entfernt werden. Reparaturen können auch ohne diese durchgeführt werden.» Feldmann kritisiert zudem die von der Stadt Zürich durchgeführte Sicherheitsüberprüfung: «Ferner weisen wir darauf hin, dass die vorliegenden Anzeigeprotokolle nicht normgerecht sind. Es fehlt sowohl die Bewertung nach Norm für die vereinbarte Bewertungsklasse, als auch die Dokumentation und der Nachweis einer fachgerechten Durchführung (…).» Feldmann weist darauf hin, dass die von der Stadt Zürich engagierten Experten bei der Sicherheitsüberprüfung Standards verwendet haben, die für die Fertigung von Werkstoffen gelten, anstatt Standards für die Tragwerksplanung.

Bruchmechanik

Hans-Jakob Schindler, Inhaber und Geschäftsführer von Mat-Tec und Dozent für Bruchmechanik an der ETH Zürich

Schindler betont, dass Werkstoffe und Schweisskonstruktionen nie fehlerfrei sind. Deshalb werden geschweisste Tragwerke so ausgelegt, dass sie solche Fehler ertragen (Fehlertoleranz). «Der Riss im Steg von Binder 15 ist stabil. Der betroffene Steg ist auch in angerissenem Zustand genügend belastbar. Folglich ist die Tragfähigkeit von Binder 15 durch den Riss kaum vermindert und verfügt über genügende Reserven. Eine Reparatur drängt sich nicht auf und wäre möglicherweise kontraproduktiv. Alle übrigen mittels zerstörungsfreier Prüfung festgestellten Risse sind unter Volllast und selbst unter den tiefsten zu erwartenden Temperaturen unkritisch. Die Sicherheit und die Lebensdauer des Stadions sind aus diesem Grund gewährleistet», folgert Schindler und Reparaturen oder Belastungstests aus bruchmechanischer Sicht unnötig. Die Expertisen der Stadt Zürich kritisiert Schindler, weil sie auf ungeeigneten Prüfnormen basieren und die für die Materialprüfung verwendeten Stahlproben in Quer- anstatt in Längsrichtung geprüft wurden. «Hier geht es nicht um verschiedene Expertenmeinungen, sondern um das korrekte wissenschaftliche Vorgehen.» Deshalb seien die von der Stadt präsentierten Bruchzähigkeitswerte zum Nachweis der Sprödbruchgefährdung ungeeignet. (md)

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