Mitholz-Katastrophe: Ein Dorf muss umziehen
Vor drei Jahren erfuhren die Bewohner von Mitholz, dass sie ihr Dorf für zehn Jahre verlassen müssen. Denn die Gefahr, dass es über 70 Jahre nach der Tragödie nochmals zu Explosionen kommt, ist zu gross. Diesem für die Schweiz beispiellosen Vorgang ist zurzeit eine Ausstellung im «Alpinen Museum» in Bern gewidmet.
Quelle: Olivier Rüegsegger @ Alpines Museum
Gefährlich nahe: Noch heute ist klar ersichtlich, welch grosser Teil des Felsens oberhalb des ehemaligen Munitionslagers in der Katastrophennacht eingestürzt ist.
Mier müessa gah, hinder öös lah, Nachbarä, Hüser u Gärtä. Niemer wett gah, hinder sich lah, dr Holder, d'Rhebarber und d'Rosä», heisst es im extra für die Ausstellung komponierten Lied «Läb wohl Mitholz». Das Lied bildet so etwas wie das Herzstück der Ausstellung «Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz», welche noch bis zum 30. Juni 2024 im «Alpinen Museum» in Bern zu sehen ist.
Gesungen wird es von einem Chor aus Projektbeteiligten und Freiwilligen und wenn es aus dem Dutzend im Kreis arrangierten Boxen erklingt, wird einem so wirklich bewusst, was es bedeutet, seine Heimat verlassen zu müssen. «Läb wohl Mitholz, chasch du no Hiimat si? D'Schlüsslä näh mier mit. Mitholz läb wohl, läb wohl. S'cha guet si, dass mier zrugg wärde cho, irgendwenn va irgendwo», heisst es zum Schluss.
Seit die Bewohnerinnern und Bewohner der idyllisch im Kandertal gelegenen Gemeinde am 25. Februar 2020 erfuhren, dass sie ihr Dorf für zehn Jahre verlassen müssen, ist nichts mehr wie zuvor. Seither leben sie zwischen Ohnmacht und Aufbruch. Gewisse haben bereits eine neue Bleibe gefunden, andere tun sich noch schwer damit, ihre Häuser zu verlassen. Doch was bedeutet es genau, seine Heimat zu verlassen? Was macht das mit den Menschen? Merkt man erst, was Heimat bedeutet, wenn man sie verliert?
Quelle: Olivier Rüegsegger @ Alpines Museum
Wohin führt der Weg der Mitholzerinnen und Mitholzer?
Schwerer Abschied
Genau diesen Fragen wollten die Verantwortlichen auf den Grund gehen. Deshalb war die Gestaltung der Ausstellung von Anfang an als partizipativer Prozess gedacht. Zur Projektgruppe Mitholz gehörten sieben Personen zwischen 30 und 65 Jahren, die allesamt im Dorf wohnen. Alle haben sie eine starke Bindung zu diesem Ort.
Dazu kamen rund 20 weitere Mitholzerinnen und Mitholzer, die Einblick in ihr Zuhause gewährten und Erinnerungen teilten. «Heimat ist keine Ausstellung über Menschen in Mitholz, sondern ein gemeinsam erarbeitetes Projekt», heisst es drum in der Communiqué zur Ausstellung. Denn die Projektgruppe, welche sich zwischen Dezember 2020 und August 2022 neun Mal in Mitholz traf, entwickelte gemeinsam mit den Verantwortlichen des Museums die Ausstellung.
Quelle: Stefan Breitenmoser
Die Miniatur von Mitholz veranschaulicht die Gegebenheiten vor Ort.
«Durch die Arbeit mit dem Alpinen Museum wurde mir bewusst, wie aussergewöhnlich dieser Ort ist. Es wird schwer, sich vom Dorf zu verabschieden. Auch die Dorfgemeinschaft wird auseinandergerissen. Ich darf kaum daran denken, dass mein Elternhaus abgerissen wird. Aber wie heisst der Spruch an unserem Haus: Nicht rückwärts, vorwärts gilt's zu schauen, mit neuem Hoffen und Vertrauen», meint etwa Annelies Grossen, die Mitglied der Projektgruppe ist.
So wie Grossen geht es den meisten Mitholzerinnen und Mitholzern. Denn einerseits besteht grosse Wehmut, das Dorf beim Blausee zu verlassen. Andererseits wissen aber alle um die Gefahren, welche unter dem Berg schlummern. Schliesslich gehört die Katastrophe bei den meisten zur Familiengeschichte.
Vermeintliche Sicherheit
Diese Geschichte wird im Museum nicht nur anhand von Fakten nachgestellt, sondern vor allem auch mit emotionalen Gegenständen und Erinnerungen der vor Ort lebenden Personen erlebbar gemacht. «Der Luftdruck beim zweiten Knall war so heftig, dass ein Fenster in Vaters Gesicht schlug. Da hiess es nur noch: fliehen! Wir rannten in der Finsternis zur Haustüre, denn keine der Lampen leuchtete mehr. Wir wollten den Schlüssel drehen, um ins Freie zu gelangen. Doch er steckte nicht mehr im Schlüsselloch – wahrscheinlich war er durch den Luftdruck auf den Boden geflogen. Auf den Knien suchte mein Vater nach dem Schlüssel, und wir waren sehr erleichtert, als er ihn endlich fand», erinnert sich beispielsweise eine Bewohnerin. Dazu ist auch der beschriebene Schlüssel ausgestellt.
Quelle: VBS
Die verschiedenen Perimeter bestimmen darüber, wer sicher wegziehen muss.
Doch auch wenn man beim Durchschreiten der Ausstellung ein Gefühl dafür kriegt, wie furchtbar die Katastrophennacht und der darauffolgende Wiederaufbau waren, in der Haut der Bevölkerung steckt man dennoch nicht. Nur vage kann man sich vorstellen, wie traurig es sein muss, geliebte Menschen zu verlieren und trotzdem oder gerade deswegen am Wohnort fest-zuhalten. Dazu kommt, dass sich die Bevölkerung jahrelang in vermeintlicher Sicherheit wähnte, nur um über 70 Jahre danach, verkündet zu bekommen, dass die Gefahr doch grösser ist und sich die Verantwortlichen getäuscht haben.
Nicht zu Ende erzählt
Die Ausstellung lohnt sich aber auch für alle jene, welche die Katastrophe von Mitholz nicht im Detail kennen (siehe Box Geschichte). Denn neben den sehr persönlichen Erinnerungen der Einheimischen wird auch die Geschichte gut aufgearbeitet. So wird etwa die Variantenevaluation des VBS zum richtigen Umgang mit der verschütteten Munition gut illustriert, sodass sie sich interaktiv erkunden lässt. Denn über räumen, überdecken, fluten oder sprengen war vieles im Gespräch.
Das mitunter Spannendste an der Geschichte der Bernoberländer Gemeinde ist aber, dass sie noch lange nicht zu Endeerzählt ist. So wurde noch während der Ausstellungskonzeption klar, dass die Evakuierung von Mitholz doch nicht die gesamte Bevölkerung in gleichem Masse betrifft. Denn die Behörden verkleinerten im März 2022 den Sicherheitsperimeter (siehe Box Räumung), der darüber bestimmt, welche Personen sicher wegziehen müssen. Neu sind das 51 Personen, weiteren 87 ist der Entscheid freigestellt.
Quelle: Olivier Rüegsegger @ Alpines Museum
Partizipativer Prozess: Verschiedene Mitholzerinnen und Mitholzer haben mitgeholfen, die Ausstellung im Alpinen Museum in Bern zu gestalten.
Weitere Wendungen sind also noch während der Laufdauer der Ausstellung zu erwarten und werden in die Ausstellung integriert. Und selbst nach Beendigung dieser dauert es noch sechs Jahre, bis die Räumungsarbeiten beginnen. Erst 2040 können die Bewohnerinnen und Bewohner wieder zurück. Ob das dann alle sind und ob sie ihr Dorf wiedererkennen, bleibt abzuwarten. Klar ist einzig, dass in Mitholz ein Stück Schweizer Geschichte geschrieben wird. Denn wie wir mit unseren Altlasten umgehen, betrifft uns alle. Insofern haben die Verantwortlichen des Alpinen Museums recht, wenn sie schreiben: «Mitholz geht uns alle an».
Quelle: Hans Lörtscher Frutigen @ Kulturstiftung Frutigland
Viel Handarbeit: Die Aufräumarbeiten nach der Katastrophe liefen Ende der 40er Jahre noch etwas anders ab als heute.
Chronologie der Ereignisse in Mitholz
Kurz vor Mitternacht des 19. Dezembers 1947 reisst eine Reihe von Explosionen die Bewohnerinnern und Bewohner von Mitholz aus dem Schlaf. Im Munitionslager der Schweizer Armee unweit des Blausees im Kandertal explodieren Sprengstoff und Munition. Aus den Eingängen des Lagers schiessen 70 Meter hohe Flammen, eine Fliegerbombe fliegt zwei Kilometer weit bis nach Kandergrund.
Denn die Öffnungen des Stollens wirken wie
Kanonenrohre. Kurz nach Mitternacht bringt die grösste Detonation einen Teil
des Felsens oberhalb des Lagers zum Einsturz und begräbt das Dorf unter einer
Schicht von Staub. Insgesamt kommen bei der Katastrophe neun Menschen ums
Leben, 39 Häuser werden zerstört.
Teilweise im Thunersee entsorgt
Die Katastrophe erregt internationales Aufsehen. Denn der zweite Weltkrieg, welcher Anlass war, das Munitionslager überhaupt zu bauen, ist schon vorbei. Die Anlage überdies erst drei Jahre in Betrieb. Insgesamt lagerten in den sechs Kammern der Anlage rund 7000 Bruttotonnen Munition, wovon nach Schätzungen bei der Katastrophe rund 800 Tonnen explodierten.
Bis Ende des
Jahres 1948 werden mit geschätzten 3500 Tonnen rund die Hälfte davon geräumt
und rund 1400 Tonnen im Thunersee entsorgt. Wie es allerdings genau zur
Explosion kommen konnte, ist bis heute nicht gänzlich geklärt. Es wird
allerdings davon ausgegangen, dass eine chemische Reaktion in einem Zünder
einer Granate mit einem Kaliber von 7,5 Zentimetern zu einer Selbstauslösung
führte, was eine Kettenreaktion auslöste.
In der Folge werden die Häuser in der Nähe des Blausees wieder aufgebaut. Auch die Armee beschliesst, das Lager weiter zu nutzen, allerdings nur für ungefährliches Armeematerial. Die Bauarbeiten werden allerdings gestoppt, da die Anlage 1957 als unterirdisches Spital mit 1000 Betten in Betracht gezogen wird. Mit dem Bau des Spitals wird zwar 1962 begonnen, doch 1971 führt eine Nachkreditforderung zum Abbruch des Projekts.
Dafür soll darin ein pharmazeutischer Fabrikationsbetrieb der Armeeapotheke
Platz finden. Dieser wird 1984 eingeweiht. Zwei Jahre später kommt eine Gruppe
der Rüstungsdienste zum Schluss, die noch vorhandene Munition im Berg stelle
kein Risiko dar, auch wenn der weitgehend verschüttete Bahntunnel nur von
Munitionsspezialisten betreten werden dürfe.
Diese Meinung ändert sich auch nicht, als 2010 die Armeeapotheke ihre Fabrikationsstandorte konzentriert und sich aus Mitholz zurückzieht. Die Armee plant, die Anlage in ein Rechenzentrum umzunutzen. Diese Planung wird vorangetrieben und selbst 2012 kommt ein Expertenbericht zum Schluss, dass eine genauere Überwachung nicht nötig sei, auch wenn die verschüttete Munition noch 320 Tonnen reinen Sprengstoff enthalte, der detonieren könnte.
Erst 2018 ändert sich diese Sicht. Damals informiert das VBS in der Turnhalle
von Mitholz, dass man in Rahmen der Evaluation des Rechenzentrums neue
Erkenntnisse gewonnen habe. Demnach sei das Explosionsrisiko doch grösser als
angenommen. Der verschüttete Bahntunnel und das Gelände vor der Fluh sollen
geräumt werden. Die Anlage wird danach stillgelegt und eine Arbeitsgruppe soll
klären, wie das Risiko für die Bevölkerung und die Umwelt minimiert werden
kann.
Bevölkerung soll entschädigt werden
Im Februar 2020 kommt dann der Schock für die Bewohnerinnen
und Bewohner von Mitholz. An einer Informationsveranstaltung in Kandersteg
informiert das VBS, dass nach einer zehnjährigen Vorbereitungs- und
Planungszeit, das Dorf für zehn Jahre evakuiert werden müsse. Das heisst für
die Bevölkerung, dass sie ihre Häuser ab 2030 bis 2040 für zehn Jahre verlassen
muss. Da aber auch Schutzbauten für Strasse und Schiene erstellt werden müssen,
sollen erste Mitholzerinnen und Mitholzer bereits ab 2025 evakuiert werden.
Erste Kostenschätzungen für die Räumung der Munitionsrückstände belaufen sich
auf 500 bis 900 Millionen Franken.
Die Bevölkerung soll allerdings entschädigt werden. Deshalb
lässt das VBS die Liegenschaften im Frühling 2021 schätzen. Die Planungen
kommen da allerdings erst ins Rollen. Die Vertiefung dieser ergibt im März
2022, dass die Gefahrenzonen doch kleiner sind, sodass nur 51 Personen
wegziehen müssen, 87 weiteren wird der Wegzug freigestellt. Im August des
letzten Jahres rechnet der Bund dann bereits mit 2,5 Milliarden Franken für die
Räumung. Von weiteren Entwicklungen kann ausgegangen werden. (bre)
Quelle: Hans Lörtscher Frutigen @ Kulturstiftung Frutigland
Der abgesprengte Felsen und der Schuttkegel zeigt die Wucht der Explosion vom Dezember 1947.
Räumung der Munitionsrückstände
Die Räumung der Munitionsrückstände in Mitholz ist ein äusserst diffiziles Projekt. Deshalb wurden verschiedene Varianten wie Sprengung, Überdeckung oder Räumung geprüft. Wichtig für die Bevölkerung ist vor allem die Unterteilung in Anlage-, Sicherheits- und Evakuationsperimeter.
Beim Anlageperimeter handelt sich um einen gesicherten Bereich, der nur von berechtigen Personen betreten darf. Im Sicherheitsperimeter ist keine dauerhafte Wohnnutzung möglich. Im Evakuationsperimeter befinden sich die Häuser, die ebenfalls evakuiert werden müssen. Jedoch wurde dieser im März 2022 redimensioniert, weshalb nun doch nicht alle Mitholzerinnen und Mitholzer zwingend ihre Häuser verlassen müssen.
Die Variantenprüfung betraf allerdings nicht nur die eigentliche Räumung, sondern auch den Schutz von Bahn und Strasse. So wurden im Falle der Nationalstrasse als wichtigem Verkehrsträger zwischen Bern und dem Wallis verschiedene Linienführungen wie beispielsweise die Verlegung auf die andere Talseite geprüft.
Als Bestvariante wurde dabei die Lösung mit einem Tunnel östlich der heutigen Ortsdurchfahrt bewertet, der grösstenteils als bergmännischer Untertagebau im Fels erstellt werden kann. Im Bereich der Anlage wird er allerdings zwecks Risikoreduktion in einer Deckelbauweise geplant. Diese Variante tangiert nur wenige Gebäude und ermöglicht eine kompakte Baustellensituation.
Bahnbetrieb aufrechterhalten
Die bestehende Lötschberg-Bergstrecke der Bahn muss ebenfalls in Betrieb bleiben, da sie als Ausweichstrecke wichtig ist. Deshalb soll sie während der Räumung mit einer Galerie, die danach wieder abgebrochen wird, geschützt werden. Für die Realisierung dieser Schutzbauten müssen erste Bewohnerinnen und Bewohner bereits 2025 ihre Häuser verlassen.
Die Räumung selbst löst dann ebenfalls diverse Etappen aus. So soll zuerst – aus geologischen und arbeitstechnischen Gründen – der Dreispitz und Teile der Fluh, also der Fels oberhalb der Anlage, abgetragen werden. Ziel ist es, den Bahnstollen freizulegen, wo ein Grossteil der rund 3500 Tonnen Munition vermutet wird. Dafür müssen aber zuerst Hohlräume im Fels temporär gefüllt werden. Insgesamt wird mit 1,5 Millionen Kubikmeter Abbaumaterial gerechnet. Dieses kann teilweise für Terrainmodellierungen – unter anderem für die Schutzbauten – wiederverwendet werden.
Dann erst beginnt die eigentliche Räumung, welche zwecks möglichst rascher Risikoreduktion dort beginnen soll, wo die meiste Munition vermutet wird. Geräumt wird im Tagbau schichtweise von oben nach unten, wodurch das Risiko des auslösenden Steinschlags minimiert und die Zugänglichkeit zur Munition stets sichergestellt sollen.
Sollten sich allerdings Probleme ergeben, sprich die Räumung aus technischen oder Sicherheitsgründen nicht umgesetzt werden können, käme die «Option Überdeckung» zum Tragen. Dabei wird von einer Überdeckung von maximal 50 Metern ausgegangen. Es wird jedoch auch in Betracht gezogen, dass nur eine Teilräumung möglich ist. (bre)