Mit dem Schiff über die Alpen
Vor 100 Jahren plante ein Ingenieur aus dem Graubünden einen neuen Handelsweg, der über die Alpen von der Nordsee zum Mittelmeer führen sollte. Das Besondere an ihm: passieren sollten ihn grosse Ladeschiffe.
Es hätte das Projekt des Jahrhunderts werden können. Stattdessen geriet der 1907 geplante Wasserkanal, der für den Schiffsverkehr die Nordsee über die Alpen mit dem Mittelmeer hätte verbinden sollen, in Vergessenheit. Erst ein Jahrhundert später stiess der Publizist Kurt Wanner zufälligerweise auf das ausgefallene Projekt. Er fand heraus, dass die geplante Wasserstrasse von der Hafenstadt Genua über Alessandria, Mailand, Como, Chiavenna, den Splügenpass, den Bodensee und Basel führen sollte und von dort über den Rhein in die Nordsee. Was verrückt anmutet, hatte einen handfesten Hintergrund: Für den internationalen Handel war der Splügenpass im Kanton Graubünden bereits seit langer Zeit wichtig. Dank dem Wasserkanal sollte er zum Welthandelsumschlagplatz werden. So jedenfalls hatte es der Initiator des Wasserkanals, der Bündner Ingenieur Pietro Caminada, im Sinn.
Ausgeklügeltes Schleusen- und Röhrensystem
Wie das deutsche Nachrichtenmagazin „Spiegel“ in einem Bericht schreibt, war ein Wasserkanal über die Alpen Anfang des 20. Jahrhunderts gar nicht so abwegig. Damals war das Strassennetz im Alpenraum schwach ausgebaut, sodass die Länder beim Gütertransport primär auf die Binnenschifffahrt setzten. Eine Wasserstrasse, die über die Alpen führt, war deshalb eine interessante Option.
Die einzige offene Frage: Wie lassen sich die Höhen überwinden? Caminada fand eine Antwort: Er entwickelte ein spezielles Schleusen- und Röhrensystem, das die Kraft des Wassers nutzt. Und so muss man sich das vorstellen: Der mehrere hundert Kilometer lange Kanal besteht aus Röhren, die durch Schleusen verbunden sind. In den wassergefüllten Röhren findet sich Platz für ein bis zu 50 Meter langes Schiff. Um über die Alpen fahren zu können, muss das Schiff in die unterste Schleuse fahren. Danach lässt man Wasser in die Schleuse laufen, dadurch steigt das Wasser – und mit ihm das Schiff – bis es das Niveau der nächsten Röhre erreicht hat. Und so geht es Schleuse um Schleuse, Röhre um Röhre weiter, bis man die Alpen überwunden hat.
Caminada – ein aussergewöhnlicher Mann
Einen Moment lang sah es tatsächlich so aus, als ob der Wasserkanal verwirklicht werden könnte. Caminada stand mit einigen Ländern in Kontakt, die ihr Interesse am Projekt bekundet hatten. Allen voran Italien. Als aber der erste Weltkrieg ausbrach, gerieten die Verhandlungen ins Stocken. Nach dem Krieg griff Caminada seine Idee wieder auf, konnte sie dann aber doch nicht verwirklich, weil er kurz darauf im Alter von 60 Jahren überraschend starb. Sein Ende ist auch das Ende des Projekts, das nach einiger Zeit schliesslich vergessen geht. Erst als der Publizist Wanner sich der Geschichte annimmt, kommt der Wasserkanal wieder ins Gespräch. Es gehe ihm nicht darum, das Projekt wieder ins Rollen zu bringen, sagt er dem „Tages-Anzeiger gegenüber. Er könne auch nicht beurteilen, ob ein solcher Wasserweg sinnvoll wäre, weil ihm das nötige Know-how dafür fehlt. Ihn habe lediglich der Ingenieur Pietro Caminada interessiert, der zu seinen Lebzeiten nicht nur für sein kühnes Kanalprojekt bekannt war, sondern auch, weil er unter anderem bei der Neugestaltung des Hafenbeckens von Rio de Janeiro mitgewirkt hatte. (ffi)