Lärmschutzvorschriften: Strengere Auslegung bremst Verdichtung aus
Wegen Bundesgerichtsurteilen werden die
Lärmschutzvorschriften bei Neubauten strenger ausgelegt. An lauten Wohnlagen
wird damit die Siedlungsentwicklung nach innen weitgehend verhindert. Der
Bundesrat sucht jetzt eine Lösung, die Verdichtungen auch in lärmbelasteten
Gebieten ermöglicht.
Quelle: Baugenossenschaft Oberstrass
Eines der blockierten Projekte: An der Winterthurerstrasse in Zürich plant die Baugenossenschaft Oberstrass Neubauten mit 134 Wohnungen.
Nicht bewilligungsfähig aus lärmschutzrechtlichen Gründen»:
So urteilen die Richter immer häufiger. Die Lärmschutzvorschriften werden seit
einiger Zeit von den kantonalen Baurekursgerichten und Verwaltungsgerichten
strenger ausgelegt. Mehrere grosse Bauprojekte in Zürich sind schon darüber
gestolpert. Beispiele: die von der Pensionskasse der Credit Suisse geplante
Brunaupark-Siedlung, ein Projekt der Baugenossenschaft Oberstrass an der
Winterthurerstrasse und eine Überbauung der Swisscanto-Anlagestiftung an der
Bederstrasse. Allein bei diesen Vorhaben ging es um insgesamt 758 Wohnungen.
Die Bauherrschaften wurden von den Gerichtsentscheiden auf
dem falschen Fuss erwischt. Die Baugenossenschaft Oberstrass zum Beispiel hatte
jahrelang ihr Neubauprojekt vorangetrieben. Gegen fünf Millionen Franken waren
bereits in die Planung geflossen. Die Baugenossenschaft hatte gerade auf den
Lärmschutz ein besonderes Augenmerk gelegt und war während des ganzen
Planungsprozesses von den Behörden von Stadt und Kanton beraten worden.
Lüftungsfensterpraxis verboten
Das Problem: Zürich muss wie viele andere grosse Städte
verdichten – und das oftmals an vielbefahrenen, lärmigen Strassen. Bauen an
lauten Verkehrsachsen scheint nun aber in der engen Stadt kaum mehr möglich zu
sein. Was ist geschehen? 2016 fällte das Bundesgericht in Lausanne einen
weitreichenden Entscheid: Es verbot die sogenannte Lüftungsfensterpraxis als
bundesrechtswidrig.
Lange musste im Kanton Zürich und in vielen anderen Kantonen
bloss an einem Fenster in einem Raum die gesetzliche Lärmlimite eingehalten
werden. Die Lärmbelastung wurde nicht mehr an allen Fenstern eines Neubaus
gemessen, sondern eben am Lüftungsfenster, das beispielsweise gegen den Hof hin
lag. Wurde der Immissionsgrenzwert dort eingehalten, wurde eine Bewilligung
erteilt. Das Bundesgericht stufte diese Lüftungsfensterpraxis als «unzulässige
Aushöhlung des Gesundheitsschutzes» ein. Lärmgrenzwerte müssten an lärmigen
Strassen an allen Fenstern eingehalten werden und nicht nur an einem Fenster,
an dem ein Raum gelüftet wird.
Ausnahmen als «Ultima Ratio»
Immerhin erlaubte das oberste Gericht aber Ausnahmen von der
Regel, damit den Forderungen der Raumplanung nach Verdichtung in den
Ballungsräumen noch entsprochen werden kann. Von diesen Ausnahmemöglichkeiten
machten die Kantone ausgiebig Gebrauch – bis das Bundesgericht 2019 zu einem
Fall in Oberwil bei Zug entschied, diese Ausnahmebewilligungen dürften nur die
«Ultima Ratio» sein, also die letzte Möglichkeit. Zuerst müssten alle anderen
möglichen baulichen und gestalterischen Massnahmen geprüft werden. Und auch
dann könne eine Ausnahme nur bewilligt werden, wenn die Immissionsgrenzwerte
«nicht wesentlich» überschritten werden.
Quelle: Ben Kron
Verdichtungen an lärmigen Verkehrsachsen scheinen in städtischen Gebieten kaum mehr möglich zu sein. Bild: Rosengartenstrasse in Zürich.
Die kantonalen Gerichte übernahmen diese neue Praxis. Sie
bewerteten die bis dahin oftmals grosszügig ausgestellten
Lärm-Ausnahmebewilligungen der Kantone als ungenügend und hoben die
Bewilligungen für Bauten an lauten Strassen auf. Damit entdeckten wiederum
Einsprecher einen neuen Hebel, um gegen unliebsame Bauprojekte vorzugehen –
auch wenn es ihnen dabei gar nicht um die Gesundheit der künftigen Bewohner
geht. An den Zürcher Gerichten sind gegenwärtig über 20 Einsprachen gegen
Bauprojekte hängig, bei denen es um Verstösse gegen die Lärmschutzvorschriften
geht, wie der «Tages-Anzeiger» kürzlich berichtete. Die strenge Rechtsprechung
beim Lärmschutz werde immer häufiger als Waffe genutzt, um Bauprojekte zu
verhindern und Bauherren Zugeständnisse abzupressen, so die Zeitung.
Neue Praxis gestützt
Viele Investoren, Bauherrschaften und Planer hofften, das
Bundesgericht werde diese neue Lärmschutz-Praxis der kantonalen Gerichte wieder
aufheben. Doch Lausanne hat die strenge Auslegung durch die Zürcher Gerichte
bereits in einem ersten Fall gestützt. Im kürzlich veröffentlichten Urteil geht
es gemäss dem «Tages-Anzeiger» um ein geplantes Mehrfamilienhaus mit acht
Wohnungen an der stark befahrenen Seestrasse in Rüschlikon am Zürichsee. Die
Lärm-Grenzwerte würden beim geplanten Neubau deutlich überschritten, tagsüber
um sechs und nachts um zehn Dezibel. Zu viel, befand auch das Bundesgericht.
Bereits eine Überschreitung um fünf Dezibel sei erheblich.
In seinem Urteil zum Fall in Rüschlikon widersprach das
höchste Gericht der Einschätzung, wonach es sich um eine Verschärfung der
Praxis handelt. Es habe nur verdeutlicht, wie das Umweltschutzgesetz und die
Lärmschutzverordnung auszulegen seien. So dürfen Ausnahmen nur erteilt werden,
wenn alle verhältnismässigen baulichen und gestalterischen Massnahmen
ausgeschöpft worden sind. Der Gesuchsteller muss aufzeigen, dass er diese
Möglichkeiten geprüft hat. Wenn die Überschreitungen des Grenzwerts hoch sind,
muss er sich noch vertiefter mit alternativen Massnahmen auseinandersetzen.
Gemäss dem Bundesamt für Umwelt (Bafu), das vom
Bundesgericht um eine Beurteilung gebeten worden war, wurden in diesem Fall in
Rüschlikon längst nicht alle Möglichkeiten geprüft, etwa Lärmschutzwände,
vorgehängte Fassadenelemente oder andere Anordnungen der Zimmer. Es seien
typische Grundrisse für Bauten mit Seesicht gewählt worden, also viele
Wohnräume und Fenster, die auf den See ausgerichtet sind – aber damit auch auf
die Strasse.
Die Baudirektion des Kantons Zürich hatte diese Darstellung
zurückgewiesen: Eine Lärmschutzwand sei schon Teil des Projekts, und
vorgehängte Fassaden widersprächen der Wohnhygiene. Das Projekt könne mit
verhältnismässigen Massnahmen nicht weiter optimiert werden. Doch das
Bundesgericht folgte der Auffassung des Bafu. Eine Ausnahmebewilligung in
diesem Fall würde das Gesetz unterlaufen.
Inwiefern der Fall für die verschiedenen Zürcher
Grossüberbauungen mit jeweils über hundert Wohnungen wegweisend sein wird, ist
umstritten. Die Stadt Zürich wartet auf das Urteil zum Fall der geplanten
Swisscanto-Überbauung an der Bederstrasse, der weiterhin am Bundesgericht
hängig ist. «Rüschlikon ist nicht Zürich, es braucht einen Entscheid im
städtischen Kontext», liess sich ein Sprecher des städtischen
Hochbaudepartements zitieren. Die Stadt nehme den Lärmschutz ernst. Aber die
Gerichtsentscheide blockierten nun Neubauten, die im Vergleich zu den
bestehenden Gebäuden die Lärmbelastung der Bewohner verringern würden.
Brunaupark-Projekt überarbeitet
Die CS-Pensionskasse hat derweil ihr Brunaupark-Projekt
überarbeitet und will dafür in der zweiten Hälfte dieses Jahres ein neues
Baugesuch einreichen. Um den Lärmschutz in den Wohnungen zu verbessern, werden
Wohn- und Schlafzimmer auf die geschützte Seite verlegt, Treppenhäuser, Küchen
und Bäder hingegen zur Strasse hin angeordnet. Am äusseren Erscheinungsbild der
Überbauung ändert sich nichts.
Quelle: Credit Suisse, Bildbau GmbH
Auch die geplante Brunaupark-Überbauung mit 500 Wohnungen ist über die Lärmschutzvorschriften gestolpert. Nach dem Gerichtsentscheid hat die Pensionskasse der Credit Suisse das Projekt überarbeitet.
Laut der Baudirektion des Kantons bleiben
Ausnahmebewilligungen möglich und damit auch Neubauten an lärmigen Strassen.
Dafür müsse aber ein Mehraufwand geleistet werden. Je höher die
Grenzwertüberschreitungen ausfallen, desto höher werden die Anforderungen. Der
Kanton habe die Bewilligungspraxis der Lärmschutz-Fachstelle entsprechend
angepasst. Die neue Bewilligungspraxis sei bundesgerichtskonform.
Den Kantonen und den Städten beziehungsweise Gemeinden als
Strasseneigentümern blieben aber noch andere Möglichkeiten, auf die auch das
Bundesgericht hingewiesen hat: Bauliche Lärmschutzmassnahmen, die die
Emissionen an der Quelle vermindern, also beispielsweise Flüsterbeläge oder
Temporeduktionen. Würden Kantone und Gemeinden vermehrt den Lärm an der Quelle
bekämpfen, würden vielerorts die Grenzwerte eingehalten oder zumindest weniger
stark überschritten. Damit würde auch der Spielraum für Ausnahmebewilligungen
wachsen.
Die «Neue Zürcher Zeitung» sieht durch die neue
Lärmschutz-Praxis «die bauliche Verdichtung in städtischen Gebieten momentan
praktisch ausgehebelt». Auch der Schweizerische Baumeisterverband (SBV) zählt
die Lärmschutzvorschriften zu den grössten rechtlichen Hindernissen, die der
Siedlungsentwicklung nach innen entgegenstehen. Zum Tag der Bauwirtschaft ruft
der SBV die Politik und die öffentliche Hand auf, die Instrumente und
Rahmenbedingungen für das verdichtete Bauen zu verbessern (vgl. «Gebäudepark:
Baumeister fordern Modernisierungsoffensive»).
Grosse Hoffnungen werden in eine Motion des Aargauer
Nationalrats Beat Flach von den Grünliberalen gesetzt. Flach, beruflich als
Jurist beim Schweizerischen Ingenieur- und Architektenverein (SIA) tätig,
forderte nach dem Bundesgerichtsurteil von 2016 Änderungen des
Umweltschutzgesetzes und der Lärmschutzverordnung, «damit in lärmbelasteten
Gebieten eine sinnvolle Siedlungsverdichtung nach innen ohne
Ausnahmebewilligung möglich ist und, wo gegeben, die breit anerkannte
Lüftungsfensterpraxis Anwendung finden kann».
Neue Rechtsgrundlage
Der Nationalrat als Erstrat nahm die Motion vor rund vier
Jahren mit deutlichem Mehr an – gegen den Willen des Bundesrats. Die
Landesregierung vertrat die Ansicht, die Legalisierung der Lüftungsfensterpraxis
werde dem komplexen Problem der Siedlungsentwicklung in lärmbelasteten Gebieten
nicht gerecht. Sie schlug stattdessen vor, eine Rechtsgrundlage zu schaffen,
die auch in lärmbelasteten Gebieten eine sinnvolle Siedlungsverdichtung nach
innen ermöglicht. Der Ständerat hiess in der Folge eine angepasste Fassung des
Vorstosses gut, hinter die sich dann auch der Nationalrat stellte. Danach soll
der Bundesrat das Umweltschutzgesetz und die Lärmschutzverordnung ändern, damit
«in lärmbelasteten Gebieten die raumplanerisch geforderte Siedlungsverdichtung
nach innen möglich wird und dabei dem Schutz der Bevölkerung vor Lärm
angemessen Rechnung getragen wird». Damit sollte der Handlungsspielraum des
Bundesrats ausgeweitet werden. Die Landesregierung könne nun eine angemessene
Interessenabwägung vornehmen, hiess es.
Der Bundesrat zeigte sich mit der
abgeänderten Motion einverstanden. «Sie lässt für die Lösungsfindung ein
bisschen mehr Optionen, um die Balance zwischen Nutzung und Schutzinteressen zu
finden und um gerade bei neuen Gebäuden Messmethodiken zu entwickeln», erklärte
die damals verantwortliche Bundesrätin Doris Leuthard (CVP). Bis die Neuerungen
eingeführt sind, dürfte es aber noch geraume Zeit dauern. Beim zuständigen
Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation
(Uvek) heisst es auf Anfrage, der Bundesrat werde sich im Sommer mit der Motion
von Flach beschäftigen.
Gebäudepark: Baumeister fordern Modernisierungsoffensive
Um die Klimaziele zu erreichen, die Ressource Boden zu
schonen und der Bevölkerung den benötigten Wohnraum zur Verfügung stellen zu
können, brauche es eine Offensive in der Modernisierung des Gebäudeparks –
insbesondere im urbanen Gebiet, aber nicht ausschliesslich. Dies ist die
Hauptbotschaft des Schweizerischen Baumeisterverbands (SBV) zum Tag der
Bauwirtschaft am 25. Juni. Nach dem Nein zum CO2-Gesetz müssen die heute schon
möglichen Massnahmen umso konsequenter umgesetzt werden, schreibt der
SBV. Er ruft die Kantone auf, ihre Gebäudeprogramme auszubauen.
Der Schweizer Gebäudepark ist überaltert. Er ist für 45
Prozent des Energieverbrauchs und für rund einen Viertel der CO2-Emissionen
verantwortlich. Die Sanierungsquote liegt heute unter einem Prozent. Wolle die
Schweiz ihre Klimaziele erreichen, brauche es eine substanzielle Steigerung an
energetischen Sanierungen, schreibt der SBV in einer Medienmitteilung.
Da ein modernes Gebäude zwischen vier- und siebenmal weniger
Energie verbrauche als ein Gebäude mit Baujahr 1980 und früher, könnten gerade
Ersatzneubauten einen entscheidenden Beitrag zum Erreichen der Klimaziele in
der Schweiz leisten. Die Bauwirtschaft sieht sich laut dem SBV als
Schlüsselbranche und als wichtiger Teil der Lösung, um zusammen mit den
öffentlichen und privaten Bauherren Verdichtung mit Lebensqualität zu
realisieren.
Der verdichteten Bauweise und der damit verbundenen höheren
Ausnützung stehen noch sehr viele Hindernisse im Weg, wie der SBV weiter
erklärt. Ausnützungsziffern, Grenzabstände, Höhenbegrenzungen, Abweichungen von
Regelbauweisen und weitere «unzweckmässige Bauvorschriften» behindern nach
seiner Meinung die Siedlungsentwicklung nach innen. Damit Investitionen in
Verdichtungsprojekte für private und öffentliche Bauherren attraktiv bleiben,
müssten Politik und öffentliche Hand die Instrumente und Rahmenbedingungen
verbessern.
Der Tag der Bauwirtschaft findet in diesem Jahr wegen der
Corona-Pandemie in moderner Form als medialer Anlass statt. Auf der eigens
geschaffenen Website www.tagderbauwirtschaft.ch veröffentlicht der SBV
fortlaufend neue Inhalte wie eine Videodiskussion mehrerer Bauexperten, Video-
und Radiobeiträge, Textbeiträge sowie ein Videostatement von
SBV-Zentralpräsident Gian-Luca Lardi mit politischen Forderungen. (stg)