Klimafreundliches Bauen: «Grün ist nicht zu teuer, Nichtgrün ist zu billig»
Die Bauindustrie muss ihren Beitrag zur Klimaneutralität leisten. Vermeidungsstrategien entfalten dabei die grösste Wirkung. Doch dazu braucht es alternative Baustoffe, neue technische Lösungen und das Vertrauen von Bauherrschaften. Notwendig ist ein Bekenntnis zur Kostenwahrheit, weil dann andere Bauweisen konkurrenzfähig werden.
Quelle: zvg
Die Baubranche hat die Zeichen der Zeit zwar erkannt, doch geht es auf dem Weg zur Klimaneutralität auch um entscheidende Detailfragen. Den Anlass mit Klimaforscher Reto Knutti, Neustark-Co-Gründer Valentin Gutknecht, Thomas Hügli, Präsident der Klimastiftung Schweiz und Patrick Suppiger, Geschäftsführer Betonsuisse, sowie Oxara-Gründer Gnanli Landrou moderierte Karin Frei.
Hitze, Trockenheit und extreme Regenfälle wechselten sich in den letzten Jahren ab. Sommertage mit zwei Grad über dem langjährigen Durchschnitt sind heute schon fast die Regel. «Es braucht nicht viel Statistik, um zu erkennen, dass das nicht normal ist», sagt Reto Knutti, Leiter der Gruppe für Klimaphysik am Institut für Atmosphäre und Klima der ETH Zürich.
Der international renommierte Klimaforscher beschrieb mit seinen wissenschaftlichen Ausführungen die Dramatik der Situation. Die weltweite Erwärmung seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts ist wissenschaftlich erwiesen. Vieles lasse sich auf Basis physikalischer Gesetze mit Computersimulationen nachzeichnen. Atmosphärische Zirkulation, Hoch- sowie Tiefdruckgebiete.
Aufgrund der Komplexität von Wetter und Klima bestehen Unsicherheiten, sodass sich mögliche Entwicklungen lediglich in Szenarien beschreiben lassen. Zukunftsszenarien gehen von einer Erwärmung von zwei Grad (optimistischen Fall) bis vier Grad (pessimistisches Szenario) aus. Die Weltgemeinschaft hat sich 2015 in Paris darauf geeinigt, die Erwärmung bei deutlich unter zwei Grad zu stabilisieren.
Gleichwohl: Bis Ende des Jahrhunderts dürfte der Aletschgletscher praktisch weggeschmolzen sein. Dieses augenfällige Szenario skizzierte Knutti beim Kibeco-Talk. Der Branchenanlass stand unter dem Motto: «Gemeinsam mit Mut und Engagement zu klimafreundlichen Baustoffen».
Vermeidung grösster Hebel
Auf dem Weg zur Erreichung des Klimaziels sind demzufolge Vermeidungsstrategien entscheidend. Knutti schätzt, dass sich rund 80 Prozent des heutigen CO2-Ausstosses vor allem durch Vermeidung unschädlich machen lässt. Einen wichtigen Sparbeitrag beim CO2-Ausstoss leisten können die negativen Emissionen, etwa mittels Air Capture oder Waldmanagement mit Aufforstungen.
Das Problem dabei ist laut Knutti, dass sich Spareffekte all dieser Massnahmen beim CO2 zeitverzögert auswirken. Daher darf der Ausstoss nur so gross sein, wie die gleiche Menge irgendwo auf der Welt aus der Atmosphäre entfernt wird. Vermeiden heisst für die Bauindustrie: Alternative Baustoffe und neue technische Lösungen finden.
Quelle: Meteo Schweiz
Mit dem Beginn der Industriealisierung Mitte des vorletzten Jahrhunderts setzte auch die Erderwärmung ein.
Wegen seiner einzigartigen Eigenschaften ist Beton allerdings nach wie vor der mit Abstand führende Baustoff, der weltweit jedoch einen immensen CO2-Fussabdruck hinterlässt. Aufgrund des Volumens ist der Spareffekt beim Beton enorm. Jährlich werden in der Schweiz rund 16 Millionen Kubikmeter Beton verbaut.
«Die Baubranche hat gemerkt, dass sie etwas tun muss», sagte Patrick
Suppiger, Geschäftsführer von Betonsuisse. Vermeiden, Wiederverwendung und Verwerten,
das werde schon seit Jahren praktiziert. 7,5 Millionen Tonnen Betonrückbau fallen
jährlich an, wovon 85 Prozent dem Recycling zugeführt werden. «Die Branche hat
weniger Recycling-Material, als sich verbauen lässt», sagte Suppiger. Zudem
habe die Zementindustrie seit 1990 den CO2-Ausstoss netto um 30 Prozent
reduzieren können. Wichtig seien jedoch auch Pioniere, welche der Branche mit
neuen Lösungen andere Perspektiven aufzeigen können.
Positive Negativemissionen
Dass der mengenmässig grösste Anteil der Reduktionsziele auf Vermeidung basiert, ist auch die Ansicht von Valentin Gutknecht, Co-Gründer von Neustark. «Es braucht Technologien, mit denen Negativemissionen erzielt werden können.» Denn nur auf diese Weise lasse sich das Klimagas in der Atmosphäre rasch und wirksam reduzieren.
Das Unternehmen nimmt mit seinem Verfahren dabei eine Vorreiterrolle ein. CO2 wird bei der Abwasserreinigungsanlage im Raum Bern abgefangen und zu Flüssiggas komprimiert. Anschliessend wird Rückbaumaterial begast, sodass CO2 zu Kalkstein mineralisiert und bei der Weiterverarbeitung langfristig im Beton gespeichert ist, was im Endeffekt zu einer Negativemission führt.
Quelle: Stefan Schmid
Durch die Begasung von Abbruchmaterial wird CO2 zu Kalkstein mineralisiert. Mit dem Verfahren erzielt das Jungunternehmen Neustark Negativemissionen.
Pilotanlagen wurden letztes Jahr an rund 20 Standorten in Europa getestet, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie das Geschäftsmodell an die Bedürfnisse lokaler Partner angepasst werden kann. Auch wird das Verfahren zur Produktion im industriellen Massstab vorangetrieben. Trotz der ausgeklügelten Lösung gibt Gutknecht zu bedenken: «Die Aktivitäten von Neustark ist keine Entschuldigung dafür, nicht beim Zement anzusetzen, um den CO2-Ausstoss zu vermeiden.»
Erdbeton als Alternative
Eine Vermeidungsstrategie unter weitgehendem Verzicht auf den Einsatz von Zement verfolgt auch das ETH-Spinoff Oxara. Dabei wird lehmhaltiges Aushubmaterial ohne Zugabe von Zement zu alternativem Beton verarbeitet, der sich im frischen Zustand giessen lässt und rasch aushärtet. Der Erdbeton eignet sich sowohl für Böden als auch für nichttragende Wände und hybride Bauweisen. Neben der Vermeidung von CO2 und dem geringeren Ressourcenverbrauch sind auch die im Vergleich zu herkömmlichem Beton deutlich geringeren Herstellungskosten ein wichtiges Argument für die Anwendung des Verfahrens.
Für Oxara-Gründer Gnanli Landrou bietet der Ansatz auch beim Wohnbau neue Möglichkeiten. Der zementfreie Erdbeton hat auch gute Eigenschaften als Isolationsmaterial. Das führe dazu, dass auch während längeren Hitzeperioden die Temperatur in Wohnräumen länger angenehm bleibe, wie Landrou ausführt. Doch es erfordert Geduld, um Bauherrschaften, Planer und Architekten zu überzeugen und die Vorteile des Baustoffs zu erklären. «Es braucht einen Mentalitätswandel aller Beteiligten», betont Landrou. Denn wie so oft bei neuen Verfahren und Produkten stellt sich die Frage nach dem Vertrauen.
Frage des Vertrauens
«Idealismus ist wichtig, trotzdem muss man unternehmerische Lösungen anbieten, die dauerhaft sind», wie ein Teilnehmer bei der Publikumsdiskussion die Sicht der Bauherrschaften beschrieb. Neue Produkte müssten wissenschaftlich fundiert sein und Stresstests bestehen. Auch müssten sie über einen langen Zeitraum funktionieren. Denn Unternehmen hätten eine Verantwortung gegenüber Bauherrschaften, denen man ein Leistungsversprechen abgebe.
Quelle: zvg
Die Lösung des ETH-Spinoff Oxara bildet eine Alternative zu herkömmlichem Beton. Lehmhaltiges Aushubmaterial ohne Zement lässt sich zu Böden oder nichttragenden Wänden verarbeiten.
Bei Neustark hat das Hochbauamt der Stadt Bern die Anwendung des Produkts unterstützt für den Bau eines Velounterstands bei einem Schulhaus. «Schauen, wie es geht, und nicht, ob es geht.» Dies sei die Haltung der Bauherrschaft gewesen, sagte Gutknecht. Vertrauen geschaffen habe auch eine wissenschaftliche Lebenszyklus-Analyse der ETH Zürich und des Paul Scherrer Instituts.
Auf jeden Fall unterscheiden sich konkrete Innovationen grundsätzlich von Greenwashing, darin waren sich die Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum einig. Denn bei Greenwashing werde das Problem nicht gelöst, sondern ausgelagert oder verschoben.
Normen ändern, Labels schaffen
Die Vertrauensfrage betrifft auch Baunormen. Konstruktionsbeton muss für die Dauerhaftigkeit von tragenden Bauteilen bestimmte Normen erfüllen, auch der Mindestzementgehalt ist in Normen festgehalten, wie Christoph Duijts, Leiter Baustoffe der Kibag, betont. Allenfalls sei zu überlegen, bei den Normen Anpassungen vorzunehmen. Verschiedene Bauspezialisten sprachen sich bei der Diskussion in ihren Voten dafür aus.
Was den Einsatz von neuen Materialien oder die Anwendung neuer Verfahren betrifft, könnten Labels bei Bauherrschaften eine gute Vertrauensbasis schaffen. Momentan herrscht laut Knutti noch ein Wildwuchs. Bauherrschaften wollten oft wissen, mit welcher Lösung wieviel CO2 eingespart werden könne. Und es zeigte sich in der Diskussion auch, dass Bauherrschaften dem Thema Beton zu wenig Beachtung schenken. Der Fokus liege allzu oft bei der Farbe der Fliessen, des Anstrichs oder der Einrichtung und weniger beim Beton.
Wahre Kosten bestimmen
Verschiedentlich wurde bei der Diskussion moniert, dass der Nachhaltigkeit das Image anhafte, sie sei zu teuer. Doch es gebe Bauteile und Techniken, die eine Senkung der Betriebskosten bewirkten. «Das Grüne ist nicht zu teuer, sondern das Nichtgrüne ist zu billig», brachte es ein Diskussionsteilnehmer auf den Punkt.
Dabei sind die wahren Kosten des CO2-Ausstosses in den Herstellungskosten nicht enthalten. Daher braucht es laut Knutti eine Internalisierung der externen Kosten. Denn CO2 verursache volkswirtschaftliche Schäden wie höhere Nahrungsmittelpreisen als Folge von Dürren. «Wenn die Branche will, dass sich etwas bewegt, sollte sie sich bei der Politik für Kostenwahrheit einsetzen, denn CO2 hat einen Preis.» Dass es in den letzten Jahren nicht schneller vorwärts ging mit den Massnahmen gegen den Klimawandel, erklärt Knutti auch mit Lobbying-Aktivitäten und der Wirkung von Fake News.
Kipppunkt erreicht
Mit den Herausforderungen des Klimawandels seien alle Branchen konfrontiert, zumal die Entwicklungen in der Atmosphäre und die Folgen für die Erde sowie die Organisation von Gegenmassnahmen in höchstem Mass komplex seien. In vielen Branchen sei mittlerweile der Kipppunkt erreicht.
Solche Tipping Points sind verbunden mit einem Bewusstseinswandel und einer Veränderung des Sozialverhaltens. Und Knutti konstatiert: «In der Wirtschaft hat es viel schneller gedreht als in der Politik.» Friday for Future und andere Bewegungen hätten Druck aufgebaut. Wegen der Reputation seien Unternehmen in Zugzwang geraten. Mittlerweile sähen diese neben den Risiken auch Chance. Mit innovativen Produkten und Dienstleistungen könnten sich Firmen anders positionieren und mit neuen Geschäftsmodellen auch Geld verdienen. «Hauptsache aber ist, dass die politischen Grabenkämpfe und die Klimaverleugnung nun vorbei sind», sagte Knutti.
Quelle: Rogelj / Friedlingstein
Den grössten Teil des CO2 lässt sich mit Vermeidungsstrategien reduzieren. Um das Klimagas aus der Atmophäre auszuscheiden, sind auch Negativemissionen erforderlich.
Die grösste Hürde auf dem Weg zur Klimaneutralität sieht er
im linearen und vergangenheitsbezogenen Denken. «Denken in Mustern erschwert
ungewohnte Herangehensweisen, um neue Lösungen zu finden.» Allenfalls bestünden
in der Baubranche noch tradierte Vorstellungen über die Art und Weise, des
Bauens, meinte Knutti. Dennoch stellt Suppiger in der Baubranche eine höhere
Dynamik fest.
Allerdings ist laut Gutknecht die Baubranche noch nicht
allzu sehr daran interessiert ist, so nachhaltig wie möglich zu bauen, wenn
bestimmte Zusatzkosten anfallen. Allenfalls braucht es eine Regulierung durch
die Politik, sagte Knutti. Auch dieser Ansatz könne zur Förderung von
Innovationen führen. Allenfalls liesse sich das Tempo auf dem Weg zur
Klimaneutralität durch die Einführung einer Lenkungsabgabe pro Tonne Beton
beschleunigen. Dann könne es plötzlich attraktiv sein, mit anderen Materialien
zu bauen, weil diese dann vergleichsweise günstiger und somit konkurrenzfähiger
seien.
Politik zieht nach
Nachdem das CO2-Gesetz letztes Jahr bei der Abstimmung
verworfen wurde, muss die Politik mit Blick auf den Klimawandel neue
Rahmenbedingungen schaffen. Am Tag der Branchenveranstaltung debattierte der
Nationalrat über entsprechende Massnahmen. Als indirekten Gegenvorschlag zur
Gletscher-Initiative definierte der Nationalrat konkrete Verminderungsziele zur
Reduktion der Treibhausgas-Emissionen auf netto null bis 2050. Mit
Etappenzielen nimmt der Nationalrat die Hausbesitzer, den Verkehr und die
Industrie in die Pflicht. Der Gebäudesektor muss bis 2040 seine Emissionen
gegenüber 1990 um 82 Prozent senken. Hausbesitzer und die Wirtschaft sollen
dabei mit Förderprogrammen finanziell unterstützen werden.
Für die energie- und materialintensive Bauindustrie bedeutet dies: Konsequentes Recycling, längere Lebensdauer von Gebäuden mit flexibler Nutzbarkeit, intensive Suche nach alternativen Baustoffen. «Wir können es uns nicht mehr leisten, nichts zu tun», betonte Duijts. Die Baubranche sei sich dessen bewusst. «Nicht weil wir müssen, machen wir das, sondern weil wir wollen.»
Klimastiftung Schweiz
Die Klimastiftung Schweiz unterstützt kleine und
mittelgrosse Unternehmen (KMU) in der Schweiz und in Liechtenstein. Die
Trägerschaft umfasst 28 Partnerunternehmen, insbesondere aus der Versicherungs-
und Finanzbranche. Alimentiert wird die Stiftung durch die Trägerunternehmen,
welche ihr die Rückerstattung der CO2-Lenkungsabgabe spenden.
Unterstützungsanträge werden von Spezialistinnen und Spezialisten der
Trägerunternehmen zuhanden des Stiftungsrats geprüft. Das finanzielle Engagement
der Stiftung ist allerdings an Bedingungen geknüpft. Die Zahl der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern darf höchstens 250 betragen, auch ist ein
Grossteil der Wertschöpfung in der Schweiz zu leistet. Begrenzt sind zudem die
einzelnen Fördersummen.
Die Projekte werden jeweils von Fachpersonen aus den Trägerunternehmen begleitet, wobei es um konkrete und pragmatische Ansätze geht. Eine wichtige Rolle beim Entscheid, ob ein Projekt unterstützungswürdig ist, spielt die Innovationskraft, die Marktfähigkeit der Dienstleistung oder des Produkts sowie die Kompetenz des Managements. Der finanzielle und personelle Support der Klimastiftung schafft Vertrauen bei der Vermarktung. Mehr als 80 Prozent der anfragenden KMU erhalten Unterstützung, erklärte Thomas Hügli, Präsident der Klimastiftung Schweiz. Seit der Gründung 2008 hat die Stiftung rund 35 Millionen Franken investiert. (sts)