08:26 BAUBRANCHE

KKW Leibstadt muss für Langzeitbetrieb Sicherheit nachweisen

Teaserbild-Quelle: KKL

Beim Betrieb von Kernkraftwerken über vierzig Jahre hinaus stellen sich hohe Anforderungen. Über den Weiterbetrieb wird alle zehn Jahre auf der Grundlage einer «Periodischen Sicherheitsüberprüfung» befunden. Eine Studie listet Sicherheitsbedenken gegen die Betriebsverlängerung des KKW Leibstadt auf.

KK Leibstadt

Quelle: KKL

Bei der Planung des Kernkraftwerks Leibstadt legten die Ingenieure eine Laufzeit von vierzig Jahren zugrunde. Alle zehn Jahre erfolgt eine umfangreiche Prüfung.

Das jüngste der Schweizer Kernkraftwerke kommt langsam in die Jahre. 2024 ist das Kernkraftwerk Leibstadt (KKL) vierzig Jahre in Betrieb. Es erzeugt ein Sechstel des Schweizer Stroms. Als es 1984 in Betrieb ging, hatten die Ingenieure vierzig Jahre als maximale Laufzeit angenommen. Dementsprechend wurden die Systeme damals auf diese Betriebsdauer hin geplant und ausgelegt. Auch wegen der Unsicherheiten rund um das Stromabkommen mit der EU und den Stromengpass-Szenarien des Bundes werden mittlerweile längere KKW-Laufzeiten als nötig und möglich erachtet. 

Auch Leibstadt soll jenseits der ursprünglich geplanten Betriebszeit weiterlaufen. Die Betreiber gehen fest davon aus. Nicht umsonst erhielt das KKL im vergangenen Jahr einen neuen Kondensator sowie besser steuerbare Umwälzpumpen. Durch den effizienteren Kondensator konnte die elektrische Leistung des in die Jahre gekommenen Siedewasserreaktors bei gleichbleibender Reaktorleistung um etwa zehn Megawatt gesteigert werden. Insgesamt wurde allein seit 2010 etwa eine Milliarde Franken ins KKL investiert, wie die Betreiber wissen lassen.

In der Schweiz ist die Laufzeit von Atomkraftwerken in der jeweiligen Genehmigung nicht begrenzt. Über den Weiterbetrieb wird jeweils alle zehn Jahre auf der Grundlage einer sogenannten Periodischen Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) befunden. Soll ein AKW über die ursprünglich geplante Laufzeit hinaus weiter betrieben werden, so müssen die Betreiber für den «Sicherheitsnachweis Langzeitbetrieb» viele zusätzliche Unterlagen einreichen. Darin müssen sie zeigen, wie sie die Sicherheit auch künftig gewährleisten wollen. Die Anforderungen sind aber in der Schweiz erstaunlich weich.

Ohne geprüften Sicherheitsnachweis

Die Schweizerische Energie-Stiftung SES schildert, wie der Vorgang in Beznau, dem ältesten Schweizer AKW, bisher verlief: «Das AKW Beznau musste 2008 seine sicherheitstechnische Stellungnahme für den Langzeitbetrieb einreichen. Die entsprechende Richtlinie des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI wurde allerdings erst danach überarbeitet. 

Darauf basierend forderte das ENSI, dass bis 2018 ein aktualisierter Sicherheitsnachweis für den Langzeitbetrieb nachgereicht werden müsse. Dieser wurde 2019 eingereicht und wird seither geprüft. Eine Stellungnahme dazu ist erst Mitte November 2021 publiziert worden. Bemerkenswert ist, dass sich das KKW Beznau inzwischen seit zwölf Jahren im verlängerten Betrieb befindet, wobei immer wieder ernsthafte Probleme aufgetreten sind, und erst jetzt ein von der Atomaufsicht geprüfter Sicherheitsnachweis dafür publiziert worden ist.»

Kommandoraum

Quelle: KKL

Blick in den Kommandoraum des Kernkraftwerks Leibstadt. Da KKL produziert ein Sechstel des Schweizer Stroms.

Die Betreiber von Leibstadt haben angekündigt, ihren Bericht bereits Ende 2022 einreichen zu wollen. Die Umweltverbände sind beunruhigt, dass auch beim KKL ähnliches passieren könnte wie bei Beznau. Die Schweizerische Energie-Stiftung SES hat daher vorsorglich eine Studie in Auftrag gegeben, die prüfen sollte, ob die Sicherheitsmassnahmen am Siedewasserreaktor in Leibstadt auch künftigen Anforderungen gewachsen sind und dem Stand der Technik genügen. Sie hofft, so noch rechtzeitig Argumente in die Diskussion um die Bedingungen für den weiteren Betrieb einbringen zu können.

Wissenslücken zum Technikstand

Der Verfasser der Studie ist Manfred Mertins, Professor an der Technischen Hochschule Brandenburg. Er stellte diese im Basler Grossratsaal an der Jahresversammlung des Trinationalen Atomschutzverbandes TRAS vor. Mertins hat in den letzten Jahrzehnten die Definition von Sicherheitsstandards für europäische Atomkraftwerke entscheidend mitgeprägt. Der Nuklearingenieur stellte darin zahlreiche Abweichungen von internationalen Standards fest sowie Lücken zum heutigen Wissens- und Technikstand im Bereich der Reaktorsicherheitstechnik.

Das aktuelle Sicherheitskonzept von Atomkraftwerken baut auf einem vierstufigen Konzept auf. Wichtiger Bestandteil der aktuellen Standards ist, dass jede Sicherheitsebene unabhängig von den anderen wirksam sein soll. Dazu kommen zudem Vorkehrungen zum Schutz gegen Brände, Explosionen, Erdbeben, Überflutungen oder einem Flugzeugabsturz.

«Nach dem Stand von Wissenschaft und Technik bei Sicherheitsanforderungen an AKW gilt, dass im gestaffelten Sicherheitskonzept alle Sicherheitsebenen unabhängig voneinander wirksam sein müssen. Massnahmen und Einrichtungen der Sicherheitsebene 4 dürfen beispielsweise grundsätzlich nicht zur Kompensation von Sicherheitsebene 3 herangezogen werden. Die Anforderung zur Unabhängigkeit gilt auch für die Hilfs- und Versorgungssysteme», hielt Mertins fest. 

Das scheint nach seinen Untersuchungen in Leibstadt nicht durchgängig gegeben zu sein. Die Sicherheitssysteme seien nur unvollständig redundant und es herrschten Defizite bei der Gewährleistung der Unabhängigkeit der Ebenen. Es fehle beispielsweise eine volle redundante Ausgestaltung des Notkühlsystems.

Maschinenraum

Quelle: KKL

Im Reaktordruckbehälter wird Wasser von den Brennelementen erhitzt. Der entstandene Dampf wird direkt auf die Turbinen geleitet. Hier ein Blick auf eine Turbinengruppe während der Revision 2012.

Auch Anforderungen an die Sturmsicherheit oder Extremhochwasser, die durch den Klimawandel häufiger und intensiver zu erwarten seien, müssten mit einbezogen werden. Das ENSI gebe sich mit einer Absicherung gegen Belastungen zufrieden, die zum Zeitpunkt der Errichtung von den Aufsichtsbehörden akzeptierten Belastungen genügen.

Nachrüsttechnik als Knackpunkt

Bei all dem kommt eine Schweizer Besonderheit ins Spiel. Die IAEA (International Atomic Energy Agency) geht davon aus, dass das Mass für die Sicherheit in Betrieb befindlicher Kernkraftwerke die Anforderungen an die Sicherheit neuer KKW herangezogen werden, also der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik. «In der Schweiz aber wird als zu erreichendes Ziel für in Betrieb befindliche KKW lediglich auf den «Stand der Nachrüsttechnik» verwiesen. Es gibt weltweit keinen vergleichbaren Ansatz. Wobei das ENSI selbst keine klare Definition des «Standes der Nachrüsttechnik» findet», wie Mertins bemängelte. 

Stattdessen behalte es sich vor, im Einzelfall abzuwägen, welche Nachrüstungen notwendig seien. «Diese Position findet keine Entsprechung in der internationalen Sicherheitspraxis», befand Mertins. Schon wegen der mangelnden völligen Redundanz und der Unabhängigkeit von Sicherheitssystemen und der fehlenden Szenarien zu den Sicherheitsanforderungen bei Kernschmelze, sei dies aber erforderlich. Nuklearingenieur Mertins sagt abschliessend: «Aus wissenschaftlicher Sicht ist klar, dass Anlagen, die seit mehr als vier Jahrzehnten im Betrieb sind, sich nicht auf den Sicherheitsstandard nachrüsten lassen, den wir heute in Europa fordern. Das wäre aber Voraussetzung, um sie weiter zu betreiben. Sonst muss man sie abschalten.»

Und was sagt das ENSI dazu? Mediensprecher Christoph Trösch geht nicht auf die gestellten Fragen zur bereits im Oktober veröffentlichten Studie ein, sondern antwortet Anfang März pauschal: «Das ENSI nimmt Studien zur Sicherheit der Kernanlagen ernst. Es hat Kenntnis von der erwähnten Studie. Das ENSI analysiert die Studie und wird danach prüfen, ob es eine Stellungnahme abgeben wird.»

Kernkraftwerk Leibstadt

Beim KKL handelt es sich um einen Siedewasserreaktor vom Typ BWR/6. Die kommerzielle Inbetriebnahme erfolgte 1984. Die thermische Nennleistung des Reaktors beträgt 3600 MW, die elektrische Bruttoleistung 1275 MWe und die Nettoleistung 1220 MWe. Siedewasserreaktoren (SWR) funktionieren mit einem einzigen Kreislauf, dem Dampf-Wasser-Kreislauf. Das Wasser im Reaktordruckbehälter wird von den Brennelementen erhitzt. Der daraus entstandene Dampf wird direkt auf die Turbinen geleitet. Anders als beim Druckwasserreaktor (DWR) sind beim SWR auch Turbinen und andere Teile ausserhalb des Containments radioaktiv belastet. In der Schweiz ist ein SWR noch im Kernkraftwerk Leibstadt im Einsatz, nach der Stilllegung des Kernkraftwerks Mühleberg, das ebenfalls über einen SWR verfügte.

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