Grenchner Wohntage: Wohnen und Arbeiten rücken wieder zusammen
Einst klar getrennte Welten, verschmelzen Wohnen und
Arbeiten heute immer mehr. Die Corona-Krise hat die Entwicklung beschleunigt.
Gemäss einer Umfrage bei Unternehmen und Angestellten könnten rund 30 Prozent
der Büroarbeitszeit im Homeoffice geleistet werden.
Quelle: Vinzent Weinbeer, Pixabay, Pixabay-Lizenz
Das Arbeiten im Homeoffice dürfte auch nach dem Ende der Corona-Krise verbreitet bleiben.
«Wohnen und Arbeiten – Hand in Hand?»: So lautete das Thema
der Grenchner Wohntage. «Wohnen und Arbeiten werden oft als klar voneinander
getrennte Welten betrachtet, die nichts miteinander zu haben», sagte
Bundespräsident Guy Parmelin, der prominenteste Redner an der Fachtagung. Dabei
hat sich das Verhältnis zwischen dem häuslichen Leben und der Erwerbsarbeit im
Verlauf der Zeit stark gewandelt. In der Vormoderne entsprach der Haushalt
einer Produktionsgemeinschaft. Mit der Industrialisierung kamen die Heimarbeit
und zunehmend auch die auswärtige Lohnarbeit auf. Spätestens seit der
Nachkriegszeit hat die räumliche Distanz zwischen Wohn- und Arbeitsort stark
zugenommen.
Heute rücken Wohnen und Arbeiten räumlich wieder zusammen.
Neue Familien- und Lebensmodelle sowie Veränderungen in der Arbeitswelt deuten
auf eine Trendwende hin. Wohnorte mit kurzen Distanzen, wo sich Hausarbeit,
kulturelle und gesellschaftliche Aktivitäten sowie Erwerbstätigkeit miteinander
verbinden lassen, sind gefragt. Das urbane Leben mit seinen vielfältigen
Möglichkeiten gewinnt an Attraktivität. Planungsbehörden sehen in der Schaffung
nutzungsoffener Räume, geeignet für Wohnen und Arbeit, Möglichkeiten zur
Innenentwicklung und Aufwertung des öffentlichen Raums. In dieser Annäherung erkennen
auch immer mehr Unternehmen Vorteile für sich: Imagegewinne, Vereinfachung der
Kundenbeziehungen oder flexiblere, Selbstverantwortung fördernde
Anstellungsverhältnisse.
Wohnung als Operationszentrum
Die Corona-Krise habe das Verhältnis zwischen Arbeit und
Wohnen in ein neues Licht gerückt, erklärte Parmelin. Arbeitnehmer und
Schülerinnen wurden ins Homeoffice geschickt. Die Wohnung wurde plötzlich für
alle Haushaltsmitglieder zu einem – je nachdem bequemen oder beengenden –
Operationszentrum für unterschiedlichste Tätigkeiten, und dies im
24-Stunden-Betrieb. «Wohnen und Arbeiten sind nicht mehr zwei getrennte Welten,
sondern gehen vielmehr ineinander über», so Parmelin. Doch die Tendenzen zur
Verschmelzung der Wohn- und Arbeitswelten seien schon vorher da gewesen. Das
Virus habe wie in manchen anderen Bereichen als Beschleuniger von Entwicklungen
gewirkt, die ohnehin bereits im Gang waren. Die Digitalisierung habe dabei neue
Möglichkeiten geschaffen.
Quelle: Stefan Gyr
Der Bedarf an grossen Wohnungen steige, sagte Bundespräsident Guy Parmelin.
Erste Folgen der Pandemie sind laut Parmelin jetzt schon zu
sehen. Wenn die Wohnung auch zum Büro werde, benötige man mehr Platz. Der
Bedarf an grossen Wohnungen steige. Das müssten Architekten schon heute
berücksichtigen. Zugleich könnte die Entwicklung in den Städten zu einer
grösseren Nachfrage nach Coworking-Spaces führen, weil in vielen Wohnungen zu
wenig Platz für die berufliche Arbeit zur Verfügung stehe.
Nachfrage nach Büroflächen stabil
Fast die Hälfte der Erwerbstätigen in der Schweiz könnten
theoretisch im Homeoffice arbeiten. Und das mobile Arbeiten wird weiter
zunehmen. Das ergab eine Umfrage des Beratungsunternehmens Wüest Partner bei
500 Schweizer Unternehmen. Vor der Krise wurde der Homeoffice-Anteil an der
gesamten Büroarbeitszeit in der Schweiz auf zwölf Prozent geschätzt. Heute
könnten gemäss den Umfrageergebnissen rund 25 bis 30 Prozent der
Büroarbeitszeit auf Distanz geleistet werden, erklärte Hervé Froidevaux,
Direktor für die Suisse Romande bei Wüest Partner. Trotzdem dürfte die
Nachfrage nach Büroflächen insgesamt stabil bleiben. Denn die Unternehmen
wollen wachsen. Gleichzeitig wird der rückläufige Bedarf an Büroarbeitsplätzen
durch andere steigende Flächenbedürfnisse wettgemacht.
Gemäss einer weiteren Umfrage von Wüest Partner bei rund
1000 privaten Haushalten würden rund drei Viertel der Büroangestellten gerne
mehr im Homeoffice arbeiten. Für die Befragten liegt der optimale
Homeoffice-Anteil an der Gesamtarbeitszeit bei durchschnittlich 30 bis 35
Prozent. Somit stimmen die Wünsche der Beschäftigten hier ziemlich gut mit den
Erwartungen der Arbeitgeber überein. Wichtiger geworden ist für viele
Arbeitnehmer die Wohnqualität. Die Bedeutung der Lage der Wohnung oder des
Hauses wie auch der Inneneinrichtung hat zugenommen.
Die Telearbeit ermögliche für viele Menschen andere Arbeits-
und Wohnformen, so Froidevaux. Wohnorte, die zuvor als zu weit entfernt von den
Arbeitsplatzzentren galten, gewinnen an Attraktivität. Bedingung ist dabei ein
schneller Zugang zu guten Grundinfrastrukturen. So erfreuen sich vor allem
touristische Orte immer grösserer Beliebtheit. Auch alternative Arbeitsformen
in Wohnortnähe, beispielsweise in Coworking-Spaces, dürften zunehmen. Die
Anbieter flexibler Arbeitsplätze werden sich dabei wahrscheinlich immer stärker
voneinander abheben, was Standort, Ausstattung, Zusatzleistungen und Preis
anbelangt.
Selbstversorgung und -verwaltung
Im Freidorf in Muttenz BL wurde bereits vor 100 Jahren
versucht, Wohnen und Arbeiten in Einklang zu bringen. Die
Genossenschaftssiedlung mit 150 grosszügigen Wohneinheiten wurde vom späteren
Bauhaus-Direktor Hannes Meyer auf der grünen Wiese vor den Toren der Stadt
Basel erbaut. «Das Freidorf war von Anfang an mehr als ein Bauprojekt», sagte
Conradin Bolliger von der Siedlungsgenossenschaft Freidorf. Die Gründer und
Siedler waren fast ausschliesslich Mitarbeitende des Verbands Schweizerischer
Konsumvereine (VSK), der heutigen Coop-Genossenschaft. Sie verfolgten eine
Ideologie der Selbstversorgung und der Selbstverwaltung und wollten Wohnraum
dem Profitdenken entziehen. Es gab sogar ein Freidorf-Geld, mit dem
im eigenen Genossenschaftsladen bezahlt werden konnte.
Quelle: nchenga, CC BY-NC 2.0, flickr.com
Genossenschaftssiedlung von internationaler Ausstrahlung: das Freidorf in Muttenz.
Das Freidorf war damit weit mehr als eine Arbeitersiedlung.
Es bot nicht nur günstigen Wohnraum für die Mitarbeitenden – von Arbeitern über
Kadermitglieder bis zu Direktoren. «Das Freidorf war auch ein Lebensmodell», so
Bollinger. Es habe das gesamte Leben der dort wohnenden Familien geprägt. Die
Genossenschaftssiedlung habe aber auch dunkle Tage durchlebt: finanzielle
Abgründe, ideologische Richtungswechsel, Konflikte mit der Denkmalpflege. Heute
sei das Freidorf ein Vorzeigeprojekt von internationaler Ausstrahlung, das
Antrieb und Inspiration für unzählige weitere Genossenschaften sei.
Sion plant neues Mischquartier
Ein Gebiet mit Mischnutzungen wird gegenwärtig in Sion VS
entwickelt: Ronquoz 21. Es erstreckt sich über 60 Hektar in unmittelbarer Nähe
zum Bahnhof und Stadtzentrum. Das Areal wird heute hauptsächlich industriell
genutzt. In den nächsten Jahren soll es zu einem gemischten Quartier mit
Wohnungen, Büros, Läden, Gewerbe, Infrastrukturen und öffentlichen Räumen
werden und so das Stadtzentrum erweitern. Dieser Wandel hat bereits 2014 mit
der Ansiedelung des FH- und des ETH-Campus eingesetzt. 2050 könnte Ronquoz 21
über 12 000 Bewohner und Arbeitsplätze beherbergen, wie Stadtplanerin Lilli
Monteventi Weber erklärte. Heute sind es rund 5000.
Aus einem städtebaulichen Wettbewerb der Stadt ging ein
gemeinsames Projekt von Herzog & de Meuron und Michel Desvigne Paysagiste
als Gewinner hervor. Dabei umrahmen die bebauten Strukturen eine grossflächige
Erholungszone, und durch das Quartier zieht sich von Ost nach West ein
bewaldetes Band. Der wirtschaftlichen Machbarkeit und den
Grundbesitzverhältnissen sei von Anfang an das gleiche Gewicht beigemessen
worden wie der formalen Qualität, sagte die Stadtplanerin.
Quelle: Herzog & de Meuron
Ronquoz 21 in Sion: Das Siegerprojekt von Herzog & de Meuron und Michel Desvigne Paysagiste.
Eine weitere Voraussetzung für eine erfolgreiche Planung und
Umsetzung sei eine «langfristige Gesamtkohärenz». Dieses Projekt werde sich
über mindestens 30 Jahre hinweg weiterentwickeln. Eine der grössten
Herausforderungen werde das Nebeneinander der heutigen industriellen
Aktivitäten und der zukünftigen Nutzungsformen sein. Man habe sich deshalb für
das Instrument des Leitplans entschieden, der eine gewisse Flexibilität, aber
auch eine schrittweise Konsolidierung erlaube. Wichtig sei auch eine breite,
regelmässige Absprache mit Vertretern der Politik und Zivilgesellschaft sowie
mit den Grundeigentümern.
Weg vom Image als graue Maus
Als farblose Arbeiterstadt ist Grenchen SO verschrien. Es gibt keine historische Altstadt, keine lebendige Fussgängerpromenade und keinen direkten Gewässerzugang im Siedlungsgebiet. Der Wandel vom Bauerndorf zur Industriestadt habe sich hier sehr schnell vollzogen, sagte Stadtplaner Fabian Ochsenbein. Für die Abstimmung von Wohnen und Arbeiten sowie die Entwicklung von qualitätsvollen städtischen Räumen sei wenig Zeit geblieben. Die gewachsene kleinräumige Gewerbestruktur sei im Ortsbild noch sehr gut ablesbar.
Die
Durchmischung, die sich in Grenchen natürlich ergeben hat, löst sich allerdings
mehr und mehr auf. Die Wohn- und Arbeitsgebiete werden zunehmend getrennt. Das
Ziel der Stadt sei es, ihre Qualitäten als Wohnort hervorzuheben und das Image
als graue Maus loszuwerden, so Ochsenbein. Die Nutzungsdurchmischung soll
erhalten bleiben, und attraktive Arbeitsplätze mit hoher Wertschöpfung sollen
gefördert werden.
Quelle: René Schulthess
Grenchen möchte verstärkt als attraktiver Wohnort in Erscheinung treten.
Bei der laufenden Ortsplanungsrevision werden entsprechende
raumplanerische Massnahmen geprüft. Zur Stärkung der Identität will die Stadt
publikumsorientierte Nutzungen im Zentrum fördern, neue Mischzonen festlegen
und das strukturelle und bauliche Erbe besser erhalten und schützen. Eine neue
Stadtachse soll eine attraktive Verbindung von den Wohnquartieren zum Zentrum
und weiter zu den Arbeits- und Freizeitnutzungen im Süden der Stadt schaffen.
Grenchen hat zudem erstmals zusammen mit den Nachbargemeinden Bettlach und
Lengnau ein Agglomerationsprogramm erarbeitet.
Aufwertung des Bestands
Seit das revidierte Raumplanungsgesetz in Kraft getreten
ist, haben Bund, Kantone und Gemeinden die Aufgabe, die Siedlungsentwicklung
nach innen zu lenken, wie der Solothurner Kantonsplaner Sacha Peter erklärte.
Eine solche Innenentwicklung solle die Potenziale der bestehenden Siedlungen
aufgreifen und diese Gebiete zum Nutzen der Bevölkerung aufwerten. Um die
Weichen für die Zukunft richtig zu stellen, müssten die Kantone und Gemeinden
ihre Spielräume intelligent nutzen. Nicht überall alles, dafür das Richtige am
dafür geeigneten Ort, laute hier die Kurzformel.
Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Bestand, das
heisst mit dem bereits bebauten Gebiet, ist dabei laut Peter unerlässlich.
Weitere wichtige Zutaten für eine qualitätsvolle Entwicklung seien
vorausschauendes Handeln, eine Zusammenarbeit über Grenzen hinweg, die
Orientierung an konkreten Fragestellungen, eine Abwägung der Interessen und
Anreize. Der Solothurner Kantonsrat hat die Regierung bereits beauftragt, ein
Anreizsystem zu entwickeln, um im Kanton «verdichtete, hochwertige und
möglichst CO2-effiziente Bauweisen» zu fördern.
Abschied von Grenchen
«Die Wohntage haben Grenchen zur Hauptstadt des Wohnens
gemacht», sagte Stadtpräsident François Scheidegger. Die Grenchner Wohntage
erlebten in diesem Jahr ihre 25. Auflage. Die Jubiläumsausgabe wurde nicht als
virtueller Event, sondern als Präsenzveranstaltung mit Covid-Zertifikatspflicht
ausgerichtet. Denn der Anlass fand in dieser Form zum letzten Mal statt: Das
Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) kehrt Grenchen im Dezember den Rücken und
zieht nach Bern. Wie es danach weitergeht, weiss noch niemand. Zwar hat laut
Scheidegger ein inzwischen zurückgetretener Bundesrat versprochen, es werde die
Wohntage weiter geben, wenn auch vielleicht in einer anderen Form. Doch
BWO-Direktor Martin Tschirren konnte nicht viel versprechen. Man mache sich
grundsätzliche Gedanken. «Eine Tagung in irgendeiner Form wird es auch in
Zukunft geben. Wie und wo, ist noch offen, aber wir werden Grenchen im Herzen
behalten.»
Die Wohntage wurden ins Leben gerufen, nachdem das BWO 1996
nach Grenchen gezogen war. Der Bund verfolgte damals eine gewisse
Dezentralisierungsstrategie und bedachte die von der Uhrenkrise gebeutelten
Städte am Jurasüdfuss mit nichtindustriellen Arbeitsplätzen: Das Bundesamt für
Statistik wurde nach Neuenburg umgesiedelt, das Bundesamt für Kommunikation
nach Biel und das Bundesamt für Wohnungswesen nach Grenchen. Neben dem BWO
trugen die Stadt Grenchen, das Architekturforum Solothurn und der Kanton
Solothurn die Wohntage.
Kernstück der Grenchner Wohntage war die Fachtagung, die
sich an ein Fachpublikum aus den Bereichen Raum- und Städteplanung,
Architektur, Forschung, Wissenschaft und Immobilienwirtschaft richtete. Der
Anlass mauserte sich zum Stelldichein der Interessierten aus dem Wohnungswesen
und wurde zu einer festen Grösse in der nationalen Agenda. In den letzten
Jahren besuchten regelmässig zwischen 200 und 250 Personen die Fachtagung.
Die Themen wechselten sich ab. So diskutierten die Fachleute
2001 unter dem Titel «Wohnen: wie weiter?» die verschiedenen Vorschläge zum
Mietrecht sowie zu einer zukünftigen Wohnraumförderung. Ein Dauerbrenner war
das Thema des preisgünstigen Wohnraums. Mehrmals kamen die Rolle und die
Bedeutung der gemeinnützigen Wohnbauträger zur Sprache. Aber auch die Aus- und
Weiterbildung im Wohnungswesen war Gegenstand der Wohntage. So wurde hier das
Lehrmittel «WohnRaum» für die Sekundarstufe vorgestellt, das vom BWO
unterstützt wurde. In den vergangenen 25 Jahren sprachen vier Bundesräte an der
Fachtagung. Mit einem Rahmenprogramm aus Kinoabenden und Ausstellungen wollten
die Veranstalter zudem die breite Bevölkerung ansprechen. (stg)