Graubünden und Glarus: Aufräumarbeiten nach dem Absturz
Noch mitten in der Coronakrise schaute die Bündner Regierung bereits wieder vorwärts. Ungeachtet des unvermittelten Wirtschaftseinbruchs verabschiedete sie ehrgeizige Entwicklungsziele. Für die geplante Glarner Steuersenkung kam jedoch das Aus.
Quelle: Tiefbauamt Kanton Graubünden
Ausbruchstelle hoch oberhalb der Malojastrasse: Nicht nur die finanziellen Folgen der Coronakrise beschäftigten dieses Jahr die Bündner Politik, sondern auch die Folgen des Klimawandels.
Ein Plus von 53 statt ein Minus von 33 Millionen Franken:
Finanzdirektor Christian Rathgeb konnte Ende März eine glänzende Jahresrechnung
2019 präsentieren. In normalen Zeiten hätte sich der Bündner
Regierungspräsident umgehend mit lautstarken Forderungen von Links und Rechts
konfrontiert gesehen. Denn auch das frei verfügbare Eigenkapital des Kantons
Graubünden betrug nun gegen eine halbe Milliarde Franken – dank einer
rekordhohen 63-Millionen-Ausschüttung der Schweizerischen Nationalbank.
Doch letzten Frühling war auch in der Bündner Politik
plötzlich nichts mehr normal, Covid-19 dämpfte alle Steuersenkungs- und
Ausgabengelüste. Rathgeb betonte im Livestream, dass der Rechnungsabschluss dem
Kanton Graubünden lediglich eine «gute Ausgangslage» verschaffe, um die
herausfordernde Situation rund um das Coronavirus in Angriff nehmen zu können.
Die Regierung sprach denn auch sofort 80 Millionen Franken für Bürgschaftskredite
an gefährdete Bündner Unternehmen. Davon wurden aber zum Glück bis Mitte
September lediglich 11,4 Millionen Franken in Anspruch genommen.
Doch etwas hat den Kanton Graubünden in den letzten sechs
Monaten viel stärker belastet: Auf 200 Millionen Franken belaufen sich die
ausbezahlten Kurzarbeits- und Erwerbsersatzentschädigungen. Die Bündner
Staatsrechnung wird fürs laufende Jahr tiefrot ausfallen, und auch für 2021 ist
mit einem Defizit zu rechnen. Denn einerseits werden nächstes Jahr die Erträge
aus der Unternehmenssteuer tiefer ausfallen, da der Gewinnsteuersatz im Rahmen
der kantonalen Umsetzung der eidgenössischen Steuergesetzreform (Staf) von 5,5
auf 4,5 Prozent sinkt. Und andererseits wird Graubünden aus dem angepassten
Bundesfinanzausgleich 2,2 Millionen Franken weniger erhalten.
Trotzdem seien weder ein grosses Sparpaket noch
Steuererhöhungen nötig, sagte Rathgeb gegenüber Radio SRF. «Es gibt keine
Investitionsstopps. Im Gegenteil. Der Kanton treibt Projekte noch rascher voran
und setzt so positive Anreize für die Wirtschaft.»
Im Clinch mit dem Richtplan
Wie ernst es der Bündner Regierung damit ist, zeigt das im Sommer verabschiedete 783 Millionen Franken schwere Strassenbauprogramm 2021 bis 2024. Dieses umfasst mehrere Umfahrungsstrassen und steht damit im offenen Widerspruch zum Entwurf des neuen Bündner Richtplankapitels Verkehr. Dort heisst es nämlich: «In Zukunft ist der Fokus vermehrt auf eine Vermeidung von zusätzlicher Mobilität, auf eine effiziente Nutzung der bestehenden Infrastruktur sowie auf eine Lenkung des Verkehrsaufkommens zu legen.» Zweckmässige Ortsumfahrungen könnten hingegen nur noch «unter gewissen Voraussetzungen» – zum Beispiel bei grossem Durchgangsverkehr – in Betracht gezogen werden.
Mit der Umsetzung des vor sieben Jahren revidierten
eidgenössischen Raumplanungsgesetzes tut sich das Bündnerland generell schwer.
Gegen den Willen der Regierung überwies der Grosse Rat Ende August einen
Vorstoss, der die flexible Wiedereinzonung von Land verlangt, das hauptsächlich
in kleineren Bündner Gemeinden ausgezont werden muss, weil die entsprechenden
Bauzonen überdimensioniert sind.
Vergebens zeigte sich Volkswirtschaftsminister Marcus Caduff
in der Debatte überzeugt davon, dass der Bundesrat eine solche Anpassung im
kantonalen Richtplan nicht genehmigen werde. Diese Meinung teilte der
SP-Grossrat Philipp Wilhelm: «Mit dem Vorstoss wird das Konzept der Raumplanung
ad absurdum geführt.» Das Stimmvolk habe das neue Raumplanungsgesetz
angenommen, doppelte BDP-Grossrat Emil Müller nach. «Gemeinden, die Bauland
auszonen müssen, stehen vor einer Herkulesaufgabe. Aber diese Aufgabe muss
jetzt angepackt werden, daran gibt es nichts zu rütteln.»
Neues Selbstverständnis gefragt
Ambitiöse Ziele umfasst auch das Bündner Regierungsprogramm
für die Jahre 2021 bis 2024. Weiter vorangetrieben werden soll die
Digitalisierung, wie der Bildungs- und Umweltminister Jon Domenic Parolini vor
den Medien ausführte. «Dabei geht es uns um die Erschliessung der Regionen mit Breitband
und die digitale Transformation in Bereichen wie Wirtschaft, Tourismus und
Bildung.»
Mit dem Aktionsplan «Green Deal» will der Regierungsrat
zudem eine Antwort auf den Klimawandel geben, indem etwa der Ausbau
erneuerbarer Energien, die Energieeffizienz bei Gebäuden und der ÖV gefördert
werden. Der dritte Schwerpunkt im Regierungsprogramm ist gemäss Parolini die
Förderung der kantonalen Randregionen: «Die dezentrale Besiedlung und die
sprachliche und kulturelle Vielfalt sollen langfristig erhalten bleiben.»
Wie dies gelingen könnte, skizzierte die Denkfabrik Avenir
Suisse. In ihrer neuen Studie «Zentrumstäler» fordert sie im Juli ein anderes
Selbstverständnis der Berggebiete. Statt nach immer schnelleren Anbindungen an
die Ballungsräume im Mittelland zu streben, sollten sie ihre eigenen Strukturen
stärken. Als Motoren dieser Entwicklung sehen die Autoren die Haupttäler,
darunter das Alpenrheintal und die Gotthardachse. Würden diese für Graubünden
zentralen «Entwicklungsachsen» gestärkt, liessen sich auch die unter
Abwanderung leidenden, peripheren Räume längerfristig stabilisieren, schreibt
Avenir Suisse. Die Zentrumstäler könnten so zu eigentlichen «Jungbrunnen» für
das ganze Berggebiet werden.
Zweitwohnungsgesetz schadet
Tatsächlich mangle es in den Bündner Seitentälern nicht an
Potenzialen, sondern an handlungsfähigen Akteuren, findet Regionalentwickler
Rudolf Büchi. «Zweitwohner könnten helfen, diese Lücke zu füllen», zitierte ihn
die Tageszeitung «Südostschweiz». Im grossen Stil wird dies aber kaum
geschehen, dürfen doch in allen Gemeinden mit über 20 Prozent Zweitwohnungen
keine weiteren nur temporär bewohnten Unterkünfte mehr erstellt werden.
Diese Regelung habe den Berggebieten «den befürchteten
wirtschaftlichen Schaden» eingebracht, schreibt Wirtschaftsgeograf Christian
Hilber in seiner jüngst publizierten Untersuchung. Das Schweizer
Zweitwohnungsgesetz habe nicht nur die lokale Arbeitslosigkeit in den
Tourismusgebieten erhöht, sondern auch die Vermögensungleichheit in der
Bevölkerung. Die Besitzer von bereits bestehenden Ferienwohnungen hätten vom
Verbot profitiert, dies ganz im Gegensatz zu den einheimischen
Erstwohnungsbesitzern.
Ohne baldige Gesetzesrevision befürchtet der Bündner
CVP-Nationalrat Martin Candinas deshalb, dass «sich die Abwanderung
beschleunigt und weiter Dorfkerne verlottern», wie er gegenüber der
«Südostschweiz» sagte.
Bauwirtschaft im Wechselbad
Nicht aus dem Krisenmodus heraus fand in den letzten zwölf
Monaten der Graubündnerische Baumeisterverband (GBV). Denn kaum waren die
kartellrechtlichen Verfahren wegen Preisabsprachen im Engadin und im kantonalen
Strassenbau abgeschlossen, eröffnete die eidgenössische Wettbewerbskommission
(Weko) schon die nächste Untersuchung – diesmal wegen vermuteter
Submissionsabreden in der südlichen Region Moesa.
In einer gemeinsamen Medienmitteilung bekannten sich der
neue GBV-Präsident Maurizio Pirola und SBV-Zentralpräsident Gian-Luca Lardi
sofort «zum gesetzeskonformen und fairen Wettbewerb». Rechtskräftig verurteilte
Verbandsmitglieder müssten sich darum einem Ausschlussverfahren stellen, hiess
es weiter.
Immerhin ist die Bündner Bauwirtschaft in der Coronakrise mit einem blauen Auge davongekommen – zumindest in diesem Jahr. «Die Entwicklung im Wohnungsbau und im übrigen Hochbau lag per Ende August 2020 noch um fünf Prozent unter dem Vorjahreswert, dies allerdings nach einem 20-prozentigen Volumeneinbruch bei den neuen Aufträgen im ersten Semester», sagte GBV-Geschäftsführer Andreas Felix. Der Tiefbau sei bereits im ersten Semester weniger von Covid-19 betroffen gewesen. «Diese Sparte ist dank der öffentlichen Hand relativ stabil durch die Krise gekommen.»
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