Gotthard-Strassentunnel: Wie der Durchschlag doch noch gelang
Der Journalist Alexander Grass hat die
Entstehungsgeschichte des Gotthard-Strassentunnels aufgearbeitet. Sein Buch
beleuchtet die langwierige Planung und die Krisen während der Bauzeit.
Bereichert wird es durch viele historische Fotos des Bauführers Walter
Scheidegger.
Quelle: Walter Scheidegger
20.6.1975, Haupttunnel: Zwischenangriff im Paragneis. Ausbruch der Kalotte und Verstärkung des Stahleinbaus mit mächtigen Holzbalken.
Mit mittlerweile mehr als sechs Millionen Durchfahrten pro Jahr ist er ein Grundpfeiler im schweizerischen Strassenverkehr: der Gotthard-Strassentunnel. Unzählige Autofahrern nutzen diesen Tunnel jedes Jahr, und auch im Güterverkehr spielt er eine wichtige Rolle. Doch kaum jemand weiss etwas über die Details der Entstehung.
Im Unterschied zu den beiden Eisenbahntunneln am Gotthard – Scheiteltunnel und Basistunnel – ist die Geschichte des Strassentunnels nie umfassend aufgearbeitet worden. Alexander Grass, ehemaliger Leiter der Auslandredaktion und Tessin-Korrespondent beim Schweizer Radio SRF, hat dies rund 40 Jahre nach der Eröffnung nachgeholt.
Nach seiner Frühpensionierung beschäftigte er sich drei Jahre lang mit dem Bau des Gotthard-Strassentunnels. Grass stieg in die Archive von Bund, Kantonen und Unternehmen, aber auch in jene der Suva, der SBB und der Gewerkschaften. Er wertete Tausende von Dokumenten aus und führte viele Gespräche mit Beteiligten, Verantwortlichen und Zeitzeugen.
Daraus ist ein
historisch relevantes und trotzdem leicht lesbares Buch entstanden:
«Durchschlag am Gotthard – Der Bau des Strassentunnels 1970-1980». Beschrieben
werden etwa der 45 Jahre dauernde Planungsprozess voller Utopien und Kontroversen,
die Technik, die Kosten- und Konstruktionskrisen während der Bauzeit, die
Arbeitsbedingungen der Mineure sowie die Situation der SBB, die ihre Cashcow am
Gotthard verlor. Zuletzt schildert das Buch die kulturelle Debatte, die den
Tunnelbau begleitete, und den politischen Prozess zur zweiten Röhre, deren Bau
2022 in Angriff genommen werden soll.
Ein Kind der Autobahneuphorie
Geplant wurde der Bau des Gotthard-Strassentunnels in den 1960er-Jahren, in einer Zeit der fast unbegrenzten Autobahneuphorie. Von dem starken Verkehrswachstum erhoffte man sich neue Arbeitsplätze und Wohlstand. Die Eröffnungen der ersten Teilabschnitte der Gotthard-Autobahn wurden denn auch von der Bevölkerung noch richtig gefeiert.
Als der Strassentunnel 1980
eröffnet wurde, war die Kritik an der ungebremsten Zunahme des Strassenverkehrs
und der damit verbundenen Umweltverschmutzung stark gewachsen. «Am Gotthard
entstand ein Tunnel in der Zeitenwende», so Grass. Das Bauwerk war ein Symbol
für Motorenlärm, Gestank und Staus in den Bergtälern. 1994 nahm die Schweizer
Stimmbevölkerung die Alpeninitiative an, die den Schwerverkehr am Gotthard
begrenzen sollte.
Quelle: Walter Scheidegger
24.5.1977, Tunnelportal Airolo: Schichtwechsel und Einfahrt in den Tunnel mit Personenwagen der Stollenbahn. Das Jahr war geprägt von der Sanierung der Bergdruckstrecken, aber auch vom Einbau der Tunneltechnik, der Stromversorgung und der Lüftungsanlagen.
Quelle: Walter Scheidegger
27.6.1974, Haupttunnel: Ausweitung Zwischenangriff Süd ungefähr bei Tunnelmeter 4950. Links der westliche Sohlstollen, der zuerst in Angriff genommen worden ist, in der Mitte der Sondierstollen und rechts der östliche Sohlstollen nach einem der ersten dortigen Abschläge.
Mit seinen 16,9 Kilometern war der Gotthard-Strassentunnel damals der längste der Welt. Heute ist er immer noch weltweit der viertlängste Strassentunnel und die längste Autoröhre in den Alpen. Während der Bauzeit bewegte man sich oft nahe am Abgrund, wie das Buch aufzeigt. Als der Bundesrat im Juni 1969 die Arbeiten vergab, wurden die Baukosten für den Strassentunnel auf 306 Millionen Franken geschätzt.
500 Tage nach dem feierlichen Baustart
herrschte im Oktober 1971 schon Krisenstimmung. Die Arbeitsgemeinschaft
Gotthard Nord (AGN) war in eine finanzielle Schieflage geraten. Der Bau des
Tunnels war in eine Zeit mit ungewöhnlich hoher Teuerung auf Löhnen und
Material gefallen. Zudem waren die geologischen Verhältnisse viel schwieriger
als in der Ausschreibung angenommen. Im Nordabschnitt kam es gleich zu
Baubeginn zu unerwarteten Problemen. Hinzu kamen zwei aufeinanderfolgende
tödliche Arbeitsunfälle in schlechtem Gestein, Unterbrüche, ein massiver
Leistungsabfall und ständige Personalwechsel.
Im Süden zeigten sich vergleichbare Schwierigkeiten. Die
Felsverhältnisse änderten sich rasch, und dafür war der von den Unternehmen
gewählte, hoch mechanisierte Tunnelbau schlecht geeignet. Das führte zu einer
längeren Bauzeit, zu Planänderungen und Mehrinstallationen: mehr Druckluft im
Tunnel, verdoppelte Bohrkapazitäten, mehr Traktoren, Betonpumpen und Bagger.
Die Probleme seien nicht vorhersehbar gewesen, erklärte auch das Consorzio
Gottardo Sud (CGS). Die Bauherrschaften, das heisst die Kantone Uri und Tessin
sowie der Bund, befanden sich in einem offenen Konflikt mit den Baukonsortien.
Wegen der Bauverzögerungen und der Nachforderungen der Bauunternehmen drohten
langwierige und kostspielige Gerichtsprozesse.
«Too big to fail»
Es waren die Zeiten der Mirage-Affäre und der Kostensteigerungen beim Furka-Basistunnel. Da befürchteten viele, man schlittere in den dritten Superskandal. Doch das Strassentunnelprojekt am Gotthard war «too big to fail», wie man heute sagen würde. Zuerst griff Bundesrat Hans Peter Tschudi ein. Nach Tschudis Rücktritt Ende 1973 bemühte sich sein Nachfolger Hans Hürlimann, den drohenden endgültigen Bruch abzuwenden. Beide Bundesräte sprachen sich dafür aus, nicht auf den Rechtsstandpunkten zu verharren.
«Wenn die am Werk beteiligten Unternehmungen zugrunde gingen und ersetzt werden müssten, so würde das viel teurer zu stehen kommen als die Erledigung gewisser Differenzen auf dem Verständigungswege», sagte Hürlimann gegenüber der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats. Nach zahlreichen Verhandlungsrunden schlossen die Bauherrschaften schweren Herzens Kompromisse mit den Konsortien – «dem Frieden zuliebe, damit man nicht prozessieren musste», wie Grass einen beteiligten ETH-Diplomingenieur zitiert. Im Januar beziehungsweise September 1980 kamen die Einigungen mit dem CGS und der AGN zustande.
Quelle: Walter Scheidegger
Datum unbekannt, Lüftungszentrale Guspisbach: Ein verschiebbares Gerüst trägt die Verschalung. Der Hohlraum zwischen Verschalung und Fels wird mit Beton verfüllt.
Quelle: Walter Scheidegger
14.3.1978, Haupttunnel: Erinnerungsfoto auf der Zwischendecke des Strassentunnels. Die Decke ist an vertikalen Stahlankern aufgehängt. Über den Anschlusseisen wird später die Zwischenwand hochgezogen, die den Frischluftkanal vom Abluftkanal trennt.
Quelle: Walter Scheidegger
11.2.1973, Lüftungszentrale Motto di Dentro: Zwei Atlas-Copco-Bohrjumbos, über ihnen die Schutzbühne, auf der ein weiterer Bohrjumbo mit vier Armen installiert ist. Der obere Jumbo konnte bereits die Sprengbohrungen für die Kalotte ausführen, während im Schutz der Arbeitsbühne auf der unteren Arbeitsebene noch die Schutterung im Gange war.
Die Kosten für den Tunnelbau schossen bis Ende 1978 um 380 Millionen auf 686,2 Millionen Franken hoch. Fast fünfzig Prozent der Mehrkosten gingen auf die Teuerung zurück, rund ein Viertel war geologisch bedingt, Projektergänzungen schlugen mit zehn Prozent zu Buche, und sechs Prozent fielen für Vorinvestitionen zur zweiten Tunnelröhre an.
Doch bei anderen grossen
Tunnelbauten jener Zeit waren die Mehrkosten noch höher, wie Grass anmerkt.
Zwei von zahlreichen Beispielen: Der San-Bernardino-Tunnel wurde
beim Baubeginn auf 72,5 Millionen Franken veranschlagt, doch 1978 wies die Endabrechnung
einen Betrag von 160,7 Millionen Franken aus. Der Mont-Blanc-Tunnel sollte 140
Millionen Franken kosten – es wurden mehr als 300 Millionen.
Ein wichtiges Thema während der Bauzeit war auch die
Arbeitssicherheit auf der Baustelle. Bei den grossen Unglücken von 1965 am
Walliser Stausee Mattmark und dem Stollenunglück von 1966 in der Tessiner
Region Robiei waren viele Dutzend Arbeiter gestorben. Für die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (Suva) war der Strassentunnel am Gotthard daher eine
Prestige-Baustelle, wie Grass erklärt. Die Suva untersuchte jeden Unfall, um
die Sicherheit zu verbessern. Dennoch verloren beim Bau des
Gotthard-Strassentunnels 19 Arbeiter ihr Leben.
Bauführer und Tunnel-Fotograf
Ergänzt werden die Ausführungen durch rund 50 Schwarzweissfotografien
von Walter Scheidegger. Der «Tunnel-Fotograf», wie Grass ihn nennt, arbeitete
ab 1970 bei der Walter J. Heller AG, einem jener fünf Unternehmen, die das
Consorzio Gottardo Sud bildeten. Scheidegger war Bauführer und zugleich verantwortlich
für die Erste-Hilfe-Organisation, die Tunnelfeuerwehr, die Einsatzgruppe für
Rettung aus vergasten Räumen und für den Lawinendienst. Am Monatsende rechnete
er jeweils die Arbeitsstunden der Belegschaft ab und erledigte die
Rechnungslegung des Konsortiums. Nach der Eröffnung des Tunnels im September
1980 erstellte Scheidegger bis 1983 die Schlussabrechnung. «Kein Nagel ist mir
entgangen», sagte er gegenüber Grass.
Während der Bauzeit des Strassentunnels nahm er über 1000 Fotografien auf. Er verwendete eine private Praktisix, eine Mittelformatkamera. Dazu kam eine Rolleiflex SL66, die ihm von seinem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wurde. Immer, wenn im Tunnel etwas Besonderes geschah, hielt Scheidegger die Ereignisse mit seiner Kamera fest. Die Rollei diente hauptsächlich für Farbaufnahmen, die Praktisix für Schwarzweiss-Fotos.
Die
Bilder nahm er zum grössten Teil mit künstlichem Licht auf. Die meisten
Arbeiten mussten schliesslich unter Tag ausgeführt werden. Scheideggers 131
Filmrollen seien «ein historischer Schatz», schreibt Grass. «Sie dokumentieren
nicht nur technische Vorgehensweisen oder geologische Probleme. Sie zeigen auch
eindrücklich Menschen beim Bau des Tunnels.»
Quelle: Walter Scheidegger
Oktober/November 1970, Sicherheitsstollen: Ein Montabert-Bohrjumbo im Einsatz. Die Maschine ist heute nahe der Barbara-Nische ausgestellt, die in Airolo zum Gedenken an den Strassentunnelbau errichtet wurde.
Quelle: Walter Scheidegger
8.11.1974, Zwischendecke Haupttunnel: In der Nähe der Portale wurde das Tunnelinnengewölbe aus Beton mit Kunststofffolien abgedichtet, die das Einsickern von Bergwasser verhinderten. Sonst wäre das Bergwasser im Winter auf der Fahrbahn zu Eis gefroren, und Ventilationskanäle hätten vom Eis blockiert werden können.
Auf das Thema ist der Autor durch einen Zufall gestossen, wie er in einem Interview mit dem «Bündner Tagblatt» erklärte. Er hatte den ETH-Bauingenieur Heinz Ehrbar kennengelernt, der auch am Bau des Gotthard-Basistunnels beteiligt war. Bei einem Vortrag an der ETH erwähnte Ehrbar, die Entstehung des Gotthard-Strassentunnels sei bisher noch nicht ausgeleuchtet worden.
«Das hat mich neugierig gemacht und angespornt, Archive
und Bibliotheken zu durchforsten, um diese Dokumentation nachzuholen», so
Grass. Zum Bau des Gotthard-Strassentunnels gebe es keine leicht einsehbaren
Quellen, schreibt Ehrbar in seinem Vorwort. Die Grundlagendokumente seien der
Öffentlichkeit nie in einer systematischen Form zugänglich gemacht worden: «Der
für das Alptransit-Projekt am Gotthard äusserst wichtige Erkenntnisgewinn aus
der Ausführung des Strassentunnelprojekts beruhte ausschliesslich auf
mündlichen Überlieferungen.»
Der wichtigste Erfolgsfaktor
Mit seinem Buch habe Alexander Grass eine der grössten Lücken in der Technikgeschichte des Verkehrsinfrastrukturbaus am Gotthard geschlossen, so Ehrbar weiter. Er hofft, die Erkenntnisse aus dieser Publikation werden dazu beitragen, «dass das partnerschaftliche Miteinander bei komplexen Projekten kein Lippenbekenntnis bleibt, sondern weiterentwickelt und täglich umgesetzt wird – zum Wohle des Bauherrn, der Unternehmer und Planerinnen und letztendlich auch des Steuerzahlers.»
Dazu braucht es laut
Ehrbar neben dem fachlichen Können auch «das persönliche Wollen und das Dürfen
der betroffenen Organisationen». Grass zeige deutlich auf: Der wichtigste
Erfolgsfaktor für den Tunnelbau ist weiterhin der Mensch. Auf allen Stufen
gelte: «Die richtigen Leute zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu haben.»
Buchtipp
Quelle: zvg
Durchschlag am Gotthard – Der Bau des Strassentunnels
1970-1980; Alexander Grass; Hier und Jetzt; 16 × 24 Zentimeter; 275 Seiten; 50
schwarzweisse und farbige Abbildungen; gebunden; ISBN 978-3-03919-509-1; 39
Franken