Gegen den Landverbrauch: Warum Boden kein Joghurt ist
Grund und Boden sind begrenzt und damit ein kostbares gesellschaftliches Gut. Das ist die Botschaft des Buchs «Boden für alle». Es begleitet eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien. Mit Beispielen aus der ganzen Welt werden Alternativen zum heutigen Flächenverbrauch aufgezeigt.
Quelle: Vorarlberger Nachrichten/Philipp Steurer
Stand der Zersiedelung im Vorarlberger Rheintal: Luftbild von Dornbirn aus dem Jahr 2017.
Der Ausspruch der Zürcher SP-Nationalrätin und Bodenpolitikerin Jacqueline Badran hat es zu einiger Berühmtheit gebracht: «Wenn die Leute mehr Joghurt essen, was machen die Produzenten? Mehr Joghurt. Und wenn die Nachfrage nach Joghurt wieder sinkt, dann produzieren sie weniger. Das ist Markt. Aber Boden? Sie können dieses Gut ja nicht vermehren. Das Problem ist, dass die Politik den Boden heute wie Joghurt behandelt.»
Dass die Oberfläche der Erde endlich und der Boden nicht vermehrbar ist, verdeutlichen auch die Ausstellung «Boden für alle» im Architekturzentrum Wien und das gleichnamige begleitende Buch. Sie führen vor Augen, wie ein sorgloser oder rein kapitalgetriebener Umgang mit dem Boden in den vergangenen Jahrzehnten Gestalt und Funktion unserer Städte und Dörfer massiv verändert hat.
Die Zersiedelung des Landes wird schon seit Jahrzehnten angeprangert. Trotzdem wird neues Bauland eingezont und munter weitergebaut. Das Verkehrsaufkommen explodiert. Während die Städte rasch wachsen, veröden die Dorfkerne. In den Städten werden die letzten Brachflächen verbaut, um Wohnraum zu schaffen. Dennoch sehen sich immer mehr Wohnungssuchende einem wachsenden Angebot an Luxusbleiben gegenüber – Wohnungen, die nicht die Funktion eines Daheims haben, sondern einer Kapitalanlage, die auch ungenutzt ihren Wert steigert.
Die Spekulation mit Grundstücken und die Hortung von Bauland verteuern die Wohnkosten und führen zu einer schleichenden Privatisierung des öffentlichen Raums. Die fortschreitende Versiegelung des Bodens trägt zur Klimakrise bei und gefährdet die Ernährungssicherheit. Schwache oder nicht angewandte Raumplanungsgesetze, teils fehlgeleitete Steuer- und Förderungssysteme sowie eine mutlose Politik schreiben diese Entwicklungen fort.
«Der Schlüssel liegt zu unseren Füssen»
«Wir alle wünschen uns gutes Essen, schöne Dörfer, naturbelassene Umwelt, eine florierende Wirtschaft und belebte Städte. Wir wollen günstig und grosszügig wohnen, mobil und unabhängig sein. Die meisten dieser Begehrlichkeiten sind nachvollziehbar, und doch bergen diese Wünsche ungeheure Interessenkonflikte»: Das schreiben Karoline Mayer und Katharina Ritter, die Kuratorinnen der Ausstellung, die noch bis zum 19. Juli im Architekturzentrum Wien zu sehen ist. Mit der Ausstellung und dem Buch wollen sie nach eigenen Angaben die vielen Kräfte sichtbar machen, die an unserem Boden zerren.
«Wir haben ein System geschaffen, das Flächenverbrauch zwingend vorauszusetzen scheint. Wir alle profitieren scheinbar davon und übersehen die langfristigen Folgen dieses Handelns», erklären die beiden Kuratorinnen. «Der Schlüssel zu einer umweltschonenden, gerechten und schönen Welt liegt zu unseren Füssen», schreibt Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrums Wien. «Ein tiefergehendes Verständnis der raumplanerischen Zusammenhänge und eine breite öffentliche Diskussion sind für eine bodenpolitische Wende unabdingbar.»
Farbig und kritisch leuchtet das Buch die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Hintergründe dieser Entwicklungen aus. Wie werden Grünflächen zu Bauland? Wieso steigt der Preis für Grund und Boden? Warum zieht das Allgemeinwohl meist den Kürzeren? Fallstudien und Begriffserklärungen bringen Licht in das Dickicht der Zuständigkeiten. Vergleiche zwischen verschiedenen europäischen Ländern veranschaulichen Stärken und Schwächen. Eine Sammlung an bereits bestehenden und möglichen neuen Instrumenten weist Wege zu einer Raumplanung, die die Ressource Boden schont, den Klimawandel abfedert, Bodenspekulation verhindert und eine gute Architektur ermöglicht.
Immobilien als «Kapitalspeicher»
Das Buch zeichnet die Ausstellung nach und ergänzt sie um fünf Essays. Die Soziologin und Ökonomin Saskia Sassen befasst sich mit den massiv zunehmenden Immobilientransaktionen durch grosse Unternehmen in Städten. Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 flüchtet privates Kapital vermehrt in Betongold. Viele dieser gekauften Gebäude werden nur unzureichend genutzt.
«Der eigentliche Wert des Erwerbs liegt zunehmend im Eigentum und der Kontrolle über das Gebäude selbst und weniger in der Art und Weise ihrer Nutzung», so Sassen. Die Gebäude dienten als «eine Art Kapitalspeicher». Die Folgen: In den Städten explodieren die Preise für durchschnittlichen Wohnraum, und die Bevölkerung wird in oft minderwertige Wohnbauten an der Peripherie verdrängt.
Der Ökonom Gerhard Senft geht den Fragen nach, wann Boden überhaupt zur Ware wurde, wovon seine Preise abhängen, welchen Einfluss Ein- und Umzonungen auf diese Preise haben oder welche Rolle das Steuersystem spielt. «Schluss mit dem Bodenfrass!», fordert die Raumplanerin Gerlind Weber. Der Ruf nach mehr Bodenschutz sei «nicht nur heimische Folklore, sondern ein Auftrag, den wir dem globalen Ganzen schulden». Sie verweist dabei auf weltweite Probleme wie etwa die Erderwärmung, Pandemien, Artenschwund, Meeresverschmutzung und Ressourcenverknappung.
Die Wissenschaftlerin und Autorin Vandana Shiva warnt, die Ausbeutung des Bodens sei eine ernsthafte Bedrohung für den Fortbestand der Menschheit. Der Architektur- und Stadtforscher Robert Temel macht sich für gemeinschaftliche Wohnprojekte als weniger bodenintensive Alternative zum frei stehenden Einfamilienhaus stark.
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