16:15 BAUBRANCHE

Gefährden Klimaanlagen das Stromnetz?

Teaserbild-Quelle: Illustration generiert mit ChatGPT

Im Zuge der zunehmend wärmeren Sommer steigt das Bedürfnis nach Klimaanlagen. In der Schweiz nähert sich der Energieverbrauch für die Kühlung demjenigen für die Heizung an. Was bedeutet das für die Stromnetze?

Balkon mit verdorrten Blumen im Sommer (Symbol)

Quelle: Illustration generiert mit ChatGPT

Wenn sich an heissen Sommertagen in der Stadt die Hitze staut, wächst drinnen das Bedürfnis nach Kühulung.

Laut offiziellen Zahlen von Meteoschweiz lagen die Temperaturen diesen  Sommer 1,6°C über dem nationalen Durchschnitt für die Jahre 1991 bis 2020. Und es gab eine intensive Hitzewelle mit Spitzenwerten, die in mehreren Kantonen die Rekorde von 2003 erreichten oder gar noch übertroffen haben. Weltweit war es nach 2023 der zweitheisseste Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen. Mit steigenden Temperaturen nimmt auch der Bedarf an Klimaanlagen zu. Laut dem Bundesamt für Energie entfallen inzwischen beinahe 11 Prozent des Stromverbrauchs in der Schweiz auf die Kühlung - auf die Heizung entfallen nicht viel mehr als 14 Prozent. 

Klimaanlagen sorgen nicht nur für ein angenehmes Raumklima und retten auch Leben, sie tragen ebenso zur Bildung von Hitzeinseln in den Städten bei - und damit zur Verschärfung der globalen Erwärmung - und sie erhöhen den Druck auf die Kraftwerke und belasten die Stromnetze zusätzlich. Wird das Schweizer Stromnetz die zusätzliche Nachfrage bewältigen können? Mario Paolone vom EPFL-Labor für verteilte elektrische Systeme liefert im Interview Antworten.

Die zunehmende Nutzung von Klimaanlagen bedeutet, dass die Spitzenlast in unserem Stromnetz bald nicht mehr im Winter, sondern im Sommer auftreten wird. Ist das ein Grund zur Besorgnis?
Soweit es das Netz betrifft, unterscheidet sich die Steuerung der Nachfrage nach Kühlsystemen nicht wesentlich von der Steuerung der Nachfrage nach Heizsystemen. Die Herausforderung besteht jedoch darin, dass der Strombedarf insgesamt steigt, nicht nur wegen der Klimaanlagen - denn eine immer größere Zahl von Prozessen wird elektrisch betrieben. Das trifft sowohl für Unternehmen als auch für Konsumenten zu. So sind beispielsweise Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge effizienter als gasbetriebene Heizkessel und Verbrennungsmotoren. Die Elektrifizierung von Prozessen treibt den Wandel voran.

Und wie?
Die zusätzliche Nachfrage wirkt sich auf die lokalen Stromnetze aus, die bereits vorher überlastet gewesen sind. Bestehende Stromleitungen und Transformatoren waren nicht für die aktuelle Belastung ausgelegt. Auch die Kraftwerke stehen unter einem größeren Druck, weil sie den zusätzlichen Strom liefern und genügend Reserven vorhalten müssen, damit die oft unvorhersehbaren Nachfragespitzen aufgefangen werden können. Wollen wir die Lücke mit erneuerbaren Energien schließen, werden etwa 40 GW zusätzlicher Solarstrom benötigt, damit der Strombedarf der Schweiz gedeckt werden kann, inklusive Strom für Heizungen, Kühlsysteme und Elektrofahrzeuge. Das aber wird die lokalen Stromnetze noch mehr belasten und die erforderlichen Reserven erhöhen.

Kann es eine gewisse Entlastung geben, wenn die Nachfrage nach Klimatisierung in die Zeit fällt, in der die Solarenergie ihren Höhepunkt erreicht?

Das ist auf alle Fälle ein positiver Aspekt der Klimatisierung: Ihr Einsatz ist auf natürliche Weise mit den Perioden intensiver Sonneneinstrahlung verbunden. Stellt die Schweiz einen grösseren Anteil ihres Energiemixes auf Solarenergie um, würde dies einige der erwähnten Netzprobleme entschärfen. Die Immobilienbesitzer werden gleichzeitig mit den Klimaanlagen Sonnenkollektoren installieren wollen, um so ihre Betriebskosten zu senken. Das wird auch den Bedarf an Energiespeichern verringern, da der Strom direkt bei der Erzeugung verbraucht werden kann.

Angesichts der Tatsache, dass die Schweiz im Sommer einen Stromüberschuss hat, könnte man die zusätzliche Nachfrage mit Solarenergie decken und somit "kostendeckend" arbeiten.
Das denken viele, denn die meisten von uns gehen von der Nettoenergie aus. Aber die Systeme für Stromnachfrage und -versorgung funktionieren nicht auf einer Gesamtebene. Es muss genügend Strom verfügbar sein, um die Nachfrage sofort zu decken, sonst kommt es zu Stromausfällen. Deshalb müssen die Netzbetreiber entweder ein Nachfragesteuerungssystem oder ein Energiespeichersystem einsetzen, damit Schwankungen bei Angebot und Nachfrage ausgeglichen werden können. Zurzeit steuern die Netzbetreiber die Nachfrage mit so genannten Primär-, Sekundär- und Tertiärreserven.

Wäre eine stärkere Dezentralisierung des Schweizer Stromnetzes eine Lösung?

Auf jeden Fall. Das am 9. Juni verabschiedete Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung - Mantelerlass -  zielt darauf ab, Energiegemeinschaften zu schaffen, in denen Gebäude den von ihnen erzeugten Strom je nach Bedarf untereinander austauschen und so möglicherweise ihren gesamten Bedarf selbst decken. Es gibt bereits Technologien, die sich mit der Synchronisierung von Angebot und Nachfrage befassen und gleichzeitig die zuvor beschriebenen Netzbeschränkungen einhalten. Mit Sicherheit werden überall in der Schweiz Energiegemeinschaften entstehen, die ihren eigenen Strom produzieren und verwalten - nicht nur für Klimaanlagen, sondern auch für Heizungen und Elektrofahrzeuge - und das nationale Stromnetz entlasten. Ganz allgemein müssen wir jedoch die Stromnachfrage besser steuern, um die Auswirkungen auf unser Netz und unsere Energiereserven abzumildern.

Ein weiteres Problem ist die Verteilung der Kosten auf die Stromerzeuger, die Stromverbraucher und die Stromnetzbetreiber.
Wir haben heute die Technologie, um den Auslastungsgrad eines Netzes auf der Grundlage des Leistungsflusses zu berechnen. Dies kann zum Beispiel über die ortsabhängigen Grenzkosten geschehen. Wir arbeiten an einem Projekt mit dem Lausanner Elektrizitätswerk, um mit dieser Form der Preisgestaltung den Nutzen für alle Teilnehmer eines bestimmten Marktes zu maximieren und gleichzeitig die Leistung des Stromnetzes zu verbessern. Es geht darum, den besten Weg zu finden, um die Investitions- und Betriebskosten für eine ganze Gemeinschaft zu senken. In der Theorie haben wir die Antworten, aber es fehlt uns der richtige Rechtsrahmen, um sie umzusetzen. Ein Projekt mit dem Lausanner Elektrizitätswerk soll eine Möglichkeit unter realen Bedingungen testen.

(EPFL, Anne-Muriel Brouet / Übersetzung und redigiert mai)


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