12:20 BAUBRANCHE

Forscher stellen drei Strategien zum Schweizer Ökostrom-Ausbau vor

Teaserbild-Quelle: Stefan Schmid

Die Ökostromziele der Schweiz sind ehrgeizig – laut einer neuen Studie aber realistisch. Ein Konsortium aus Wissenschaftlern der Universitäten Genf und Bern, der EPFL und der ETH Zürich hat drei Strategien zum Ausbau erneuerbarer Energien bis 2035 erarbeitet. 

Solaranlage auf Staumauer Valle di Lei

Quelle: Stefan Schmid

Bei der zweiten Strategie mit Fokus auf PV-Anlagen mit Batterien müssten für eine Stromproduktion von 35 TWh pro Jahr in Graubünden und im Wallis viel mehr Anlagen gebaut werden. Bild: Solaranlage auf der Staumauer Valle di Lei.

Mit dem vom Parlament im September 2023 verabschiedeten Mantelerlass soll der Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigt werden. Er sieht ein Ziel von 35 TWh pro Jahr aus neuen grünen Technologien – Sonne, Wind, Holz und Biogas – bis 2035 vor, verglichen mit dem Niveau von etwa 6 TWh/Jahr im Jahr 2022. Dieses Ziel würde etwa der Hälfte des für 2035 zu erwartenden Strombedarfs der Schweiz entsprechen. Die andere Hälfte würde durch Wasserkraft und Importe gedeckt werden. Und das alles, ohne Kernkraft oder grosse fossile Kraftwerke. 

Das «Edge»-Konsortium, dem Wissenschaftler der Universität Genf (Unige), der Universität Bern (Unibe), der EPFL und der ETH Zürich sowie andere Partner angehören, hat nun im Rahmen einer durch das «Sweet»-Programm des Bundesamtes für Energie geförderten Forschungsarbeit in einem Bericht vier Ziele für die Stromerzeugung bis 2035 erarbeitet: 17 TWh, 25 TWh sowie 35 TWh pro Jahr mit einem Mix aus erneuerbaren Energien sowie 25 TWh pro Jahr allein mit Solarenergie. 

Jedes dieser Ziele wurde von drei Modellierungsteams bewertet, um drei Strategien zu definieren, mit denen es zu minimalen Kosten erreicht werden könnte. Dabei analysierten die Forscher auch die technischen, regionalen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Varianten. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit wurden im Fachmagazin «Applied Energy» publiziert. 

1. Fokus auf Vielfalt 

Bei der ersten Strategie werden die neuen Technologien so weit wie möglich kombiniert, um Vielfalt und Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Um das ehrgeizigste Ziel (35 TWh/Jahr) zu erreichen, impliziert diese Option einen Mix aus 25 TWh/Jahr photovoltaischer Solarenergie, 8 TWh/Jahr Biomasse und Abfall sowie 2 TWh/Jahr Windenergie. Selbst bei der niedrigsten Zielvorgabe (17 TWh/Jahr, was 15 TWh/Jahr weniger Solarenergie bedeuten würde) bleibt die Photovoltaik hierbei die dominierende Energiequelle. 

«Diese Strategie beinhaltet diskrete Solaranlagen an Fassaden und auf Dächern», erklärt Evelina Trutnevyte, Mitkoordinatorin des Forschungsprojektes «Sweet Edge» und ausserordentliche Professorin für erneuerbare Energiesysteme an der Unige. «Sie würde also gut angenommen werden. Bei den niedrigeren Produktionszielen würden sie bereits überall im Land zu finden sein.» Mit dem hohen Ziel wären sie laut Trutnevyte im Tessin und im Wallis, also Kantonen mit vergleichsweise hoher Sonnenscheindauer, noch weiter verbreitet. Ideal wären ausserdem Windparks im Jura, in der Nordostschweiz und im französischsprachigen Teil der Schweiz. 

Solaranlagen im Weiler Niederhofen in Bichelsee-Balterswil

Quelle: Pascale Boschung

Die erste Strategie beinhaltet diskrete Solaranlagen an Fassaden und auf Dächern und würde laut den Autoren von der Bevölkerung gut angenommen werden. Bild: Solaranlagen im Thurgauer Weiler Niederhofen.

2. Fokus auf PV mit Batterien 

Die zweite Strategie konzentriert sich auf Photovoltaikanlagen mit Batteriespeichern für den Eigenverbrauch auf privaten Dächern. Diese Option erfordert laut den Studienautoren ein aktiveres Engagement der Bürgerinnen und Bürger, hat aber den Vorteil, dass bestimmte, weniger akzeptierte Technologien vermieden werden könnten. Bei einem Ziel von 35 TWh/Jahr sollte die Solarenergie bei dieser Strategie 31 TWh/Jahr liefern, ergänzt durch 4 TWh/Jahr aus bestehenden Biomasse- und Abfallverbrennungsanlagen.

«Für die Zielvorgaben von 17 TWh/Jahr und 25 TWh/Jahr würden Photovoltaikanlagen in den Kantonen Bern, Zürich und jenen in der Zentralschweiz installiert, wo die Dichte an geeigneten Gebäuden hoch ist und die Förderpolitik als eher unterstützend angesehen wird», erklärt Giovanni Sansavini, Professor für Reliability and Risk Engineering an der ETH Zürich. Um 35 TWh/Jahr zu erreichen, müssten aber auch in den Kantonen Graubünden und Wallis viel mehr Anlagen gebaut werden, auch auf Freiflächen. Höhere Kapazitätsfaktoren in diesen Kantonen würden laut Sansavini zu einem Rückgang der Anlagen in den Kantonen Bern, Zürich und der Zentralschweiz führen. 

3. Fokus auf Produktivität 

Die dritte Strategie konzentriert sich auf die Optimierung der Produktion von Wind- und Photovoltaik-Infrastrukturen, einschliesslich der Photovoltaik auf Dächern und auf Freiflächen. Sie bietet den Vorteil, dass sich die Anlagen auf die produktivsten Standorte konzentrieren und Investitionen in Biomasse- und Abfallbehandlungsanlagen vermieden werden. Um 35 TWh/Jahr zu erreichen, erfordert diese Option einen Mix aus 30 TWh/Jahr Photovoltaik und 5 TWh/Jahr Windenergie. 

«Bei dieser Option würden die meisten Photovoltaik-Anlagen in den Alpengemeinden konzentriert, insbesondere in den Kantonen Graubünden und Wallis, wobei davon ausgegangen wird, dass einige dieser Anlagen auch auf dem freien Feld gebaut und nicht in bestehende Gebäude oder Infrastrukturen integriert werden, was den Winterimport am effizientesten begrenzen würde», erklärt Michael Lehning, Ko-Koordinator von «Sweet Edge», ordentlicher Professor an der EPFL und der WSL sowie Direktor des EPFL-Labors für Kryosphärenwissenschaften und Climact. 

Bild 6: Windturbine im Entlebuch

Quelle: Pfüderi, Pixabay gemeinfrei

Der Aufbau der nötigen Erzeugungskapazitäten könnte gemäss Studie je nach Strategie und Zielsetzung bis 2035 jährlich zwischen 18’000 und 57’000 Vollzeitarbeitsplätze schaffen. Bild: Windrad in Entlebuch.

Grosse Investitionen, viele Arbeitsplätze 

Der Investitionsbedarf für die drei Optionen liegt laut den Autoren zwischen 0,5 und 2,1 Milliarden Franken pro Jahr, und zwar von heute bis 2035. Die dritte Strategie («Produktivität») wäre hierbei die günstigste Variante (0,5 Mrd. CHF pro Jahr, um 17 TWh/Jahr zu erreichen, und 1,4 Mrd. CHF pro Jahr für 35 TWh/Jahr), da sie den Bau der wenigsten Anlagen erfordert. 

Die erste Strategie («Diversität») würde am meisten kosten, um das hohe Ziel zu erreichen (1,7 Mrd.), wäre aber für die anderen drei Ziele die zweitwichtigste. Würde man alle Ziele und Strategien zusammennehmen, wäre das 25-TWh-Ziel mit reiner Solarenergie am teuersten (bis zu zwei Mrd.). Da die Photovoltaik bei allen Modellen die vorherrschende Energiequelle ist, würde sie mindestens 80 Prozent der Investitionen absorbieren. 

Der Aufbau der nötigen Erzeugungskapazitäten könnte laut den Autoren je nach Strategie und Zielsetzung bis ins Jahr 2035 jährlich zwischen 18’000 und 57’000 Vollzeitarbeitsplätze schaffen. Es könne davon ausgegangen werden, dass 33 % der Arbeitsplätze in der Produktion, 62 % im Bau und in der Installation, 4 % im Betrieb und in der Wartung und 1 % in der Erneuerung der Anlagen entstehen. Bei einem Ziel von 35 TWh/Jahr würde die Photovoltaik mit Batterien die meisten Arbeitsplätze schaffen (50’000). 

Die meisten Arbeitsplätze würden gemäss der Studie für den Aufbau der Photovoltaik-Kapazität benötigt. Bei der ersten und dritten Strategie würden sie sich auf die südlichen und südwestlichen Kantone konzentrieren. Im Falle der zweiten Strategie vor allem auf die Kantone Bern und Zürich. 

ScuolSolar

Quelle: ScuolSolar

Visualisierung der alpinen Solaranlage «ScuolSolar»: Windenergie und Freiflächenphotovoltaik bleiben laut der Studie in der Bevölkerung ein umstrittenes Thema.

Hohe Akzeptanz für Erneuerbare 

Neben den drei Strategien und ihrer technisch-ökonomischen Bewertung dokumentiert der Bericht anhand von Umfragedaten auch, dass die aktuellen Sorgen um die Energieversorgungssicherheit, die seit dem russischen Angriff auf die Ukraine an Bedeutung gewonnen haben und mit einem starken Wunsch nach Energieunabhängigkeit und einheimischer erneuerbarer Energieproduktion einhergehen. Dennoch, so Isabelle Stadelmann-Steffen von der Unibe, «bleiben Windenergie und Freiflächenphotovoltaik – wie auch die Kernenergie – in der Bevölkerung ein umstrittenes Thema». Die Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft ist verantwortlich für eine grosse Bevölkerungsumfrage, die an der Uni Bern durchgeführt wurde und die Grundlage für die Akzeptanzanalysen bildet. 

Realistische Ziele 

Die drei Modelle zeigen laut den Autoren, dass die vier Stromproduktionsziele ohne Kernenergie und ohne fossile Grosskraftwerke technisch erreichbar sind. Je höher das Ziel, desto weniger Strom müsse die Schweiz importieren. Mit einem Ziel von 35 TWh/Jahr könne die Schweiz genügend Strom aus erneuerbaren Energien produzieren, um ihren jährlichen Verbrauch nahezu zu decken. Dennoch blieben die Nettostromimporte ein wichtiges Instrument zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage, insbesondere im Winter. Alles in allem würden diese Ergebnisse die ehrgeizigsten Ziele unterstützen, einschliesslich des kürzlich vom Schweizer Parlament verabschiedeten Ziels von 35 TWh/Jahr. (mgt/pb) 

Literaturhinweis

Ausführlicher Forschungsbericht:

Renewable Energy Outlook for Switzerland
Trutnevyte, Evelina orcid; Sasse, Jan-Philipp orcid; Heinisch, Verena; Đukan, Mak; Gabrielli, Paolo; Garrison, Jared; Jain, Pranjal; Renggli, Samuel; Sansavini, Giovanni; Schaffner, Christian; Schwarz, Marius; Steffen, Bjarne; Dujardin, Jérôme; Lehning, Michael; Ripoll, Pierre; Thalmann, Philippe; Vielle, Marc; Stadelmann-Steffen, Isabelle

doi: 10.13097/archive-​ouverte/unige:172640


Studie im Fachmagazin «Applied Energy»:

Inter-comparison of spatial models for high shares of renewable electricity in Switzerland
Verena Heinisch, Jérôme Dujardin, Paolo Gabrielli, Pranjal Jain, Michael Lehning, Giovanni Sansavini, Jan-Philipp Sasse, Christian Schaffner, Marius Schwarz, Evelina Trutnevyte 

doi: 10.1016/j.apenergy.2023.121700

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