Europäische Tage des Denkmals: Unterwegs im Kraftwerk Wägital in Siebnen
«Reparieren und Wiederverwenden» lautet das Thema der 30. Europäischen Tage des Denkmals in der Schweiz. An einem Septemberwochenende liessen sich wieder Orte besuchen, die oft nicht zugänglich sind. Beispielsweise das Kraftwerk Wägital in Siebnen SZ.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Das Schalthaus der Zentrale Siebnen wirkt wie ein Palast. Links von ihm stehen am Hang die Mehrfamilienhäuser, die für das Personal der Baustelle und später des Kraftwerks gebaut wurden.
Wenn man ein Denkmal reparieren und wiederverwenden kann, dann heisst das Glück hoch zwei, könnte man meinen. Denn der Status, jener des Denkmals, und sein Alltagsnutzen sind zwei verschiedene Dinge. Nicht immer sind sie leicht miteinander vereinbar. Die Denkmalpflege des Kantons Schwyz machte sich zu diesem Doppelanspruch seine Gedanken und landete zu Beginn der Planung des Besuchsprogramms bei der Schrähbachbrücke am Wägitalersee.
Brücke von Robert Maillart
Diese Betonbrücke wurde 1924 für die Umfahrungsstrasse des neuen Stausees gebaut, nach einem Entwurf des weltberühmten Ingenieurs Robert Maillart (1872 – 1940), der sich mit anderen Werken, wie der Salginatobelbrücke oberhalb von Schiers (GR) oder der Schwandbachbrücke bei Schwarzenburg (BE), seinen Platz in der globalen Baugeschichte verdiente. Die marode Schrähbachbrücke hätte durch ein neues Projekt ersetzt werden sollen, engagierte Fachleute konnten dies verhindern und stattdessen eine sanfte Sanierung der bestehenden Struktur nach dem Konzept des ebenfalls berühmten Ingenieurs Jürg Conzett und der Firma Conzett Bronzini und Partner durchsetzen.
Mit der Brücke als «Aufhänger» entschlossen sich die Organisatorinnen und Organisatoren der Denkmalpflege Schwyz, am 9. und 10. September die gesamte, rund 100-jährige Kraftwerksanlage Wägital ins Programm aufzunehmen. Diese besteht neben dem Stausee und seiner Gewichtsstaumauer aus dem Kraftwerk Rempen und seinem Staubecken als «Zwischenstufe» und der Zentrale Siebnen unten im Tal, hinter der die Wägitaler Aa dem Oberen Zürichsee entgegenfliesst.
So wurde am Samstag, 9. September, vor einer nachmittäglichen Besichtigung der Schrähbachbrücke mit Ingenieur Conzett mit anschliessender Podiumsdiskussion eine morgendliche Besichtigung der Zentrale Siebnen angeboten. Am Sonntag stand eine vierstündige Wanderung durchs Trepsental, einem Nebental, und entlang der Kunstbauten der AG Kraftwerk Wägital auf dem Programm.
Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Unbekannt / Hs_1085-1922-24-1-1 / Public Domain Mark
Für die Umfahrung des Wägitalersees entstanden mehrere Brücken von Robert Maillart.
«béton brut» vor Le Corbusier
Der Samstagshimmel war blau, das Thermometer stieg schnell. Und das Publikumsinteresse an der Zentrale Siebnen erwies sich als beträchtlich. Rund 50 Personen liessen sich in zwei Gruppen durch das Areal des Kraftwerks führen, welches das Wasser der Wägitaler Aa und seiner Zuflüsse aus den Nebentälern turbiniert.
Dass die Gebäude Pionierbauten waren, bei denen man neue Konstruktionen und Formen für neue Nutzungen finden musste, ist sofort erkennbar. Hier wagte man Grosses; schliesslich war die Gewichts-Staumauer Schräh, die den Wägitalersee in Schach hält, bei ihrer Vollendung mit 111 Metern Gesamthöhe weltweit die höchste. Architektur und Baustatik mussten sich hier in wenig bekanntes Neuland vortasten.
Sie taten dies mit Erfolg, ein beträchtlicher Teil der damals erstellten Bauwerke erfüllen wie das Kraftwerk als Ganzes nach wie vor ihren ursprünglichen Zweck. Die Bauzeugen sind funktionstüchtig, auch wenn nicht mehr alle auf ihre ursprünglich angedachte Art gebraucht werden, wie sich auf dem Rundgang erwies. Auch die Eigentümerinnen sind die gleichen geblieben: die Axpo (vormals Nordostschweizerische Kraftwerke AG NOK), welche auch ein regionaler Versorger ist, und das ewz (Elektrizitätswerk der Stadt Zürich).
Quelle: Manuel Pestalozzi
Das Maschinenhaus an der Wägitaler Aa ist von der alten Hauptstrasse her gut sichtbar.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Im Maschinenhaus des Kraftwerks Siebnen stehen vier Generatoren in den ursprünglichen Gehäusen.
Das Maschinenhaus der Zentrale Siebnen ist der imposante, repräsentative Auftakt des Kraftwerkkomplexes Wägital. Es steht wenige Meter von der kanalisierten Wägitaler Aa entfernt, in welche es das turbinierte Wasser ablassen kann. Von der alten Hauptstrasse Zürich-Sargans-Chur gut sichtbar, erinnert es in seiner Form an eine Kathedrale. Seine Ausmasse machen deutlich, dass der Wirkungsradius der Anlage über die unmittelbare Region hinausreicht.
Talwärts, an der nördlichen Schmalseite, markiert ein etwas gedrungener Turm in der Symmetrieachse den repräsentativen Eingang. Um ihn befinden sich Büros, auch der ursprüngliche Kontroll- und Steuerungsraum war dort untergebracht. Hinter ihnen öffnet sich als «Kirchenschiff» der hohe Saal mit den vier Generatoren. Sie werden seit der Entstehungszeit vom Wasser aus unterirdischen Druckleitungen angetrieben. Am 9. September herrschte im Saal allerdings Stille – wie in einem Gotteshaus. «Die Anlage war geplant als Winterkraftwerk», erklärte Christian Stockinger, der Betriebsleiter der AG Kraftwerk Wägital. Die Anlage war immer ein Pumpspeicherkraftwerk, das bei Spitzenlast, hauptsächlich im Winter, Strom ins Netz einspeist.
Die Tragstruktur und die Fassaden des Maschinenhauses sind aus Beton, nur der Dachstuhl ist in Holz ausgeführt. Die Fassaden waren nie verkleidet, man kann hier von einem frühen Beispiel von «béton brut» in der Architektur sprechen. Die Zentrale wurde von den Gebrüdern Adolf und Heinrich Bräm aus Zürich geplant, einem kaum erforschten Büro, das in Zürich auch die Sihlpost oder das Schulhaus Letten entwarf. Die mit Pfeilern und Lisenen gegliederte Westfassade am Fluss vereint klassizistische und gotische Elemente zu einer in ihrer Art wohl einmaligen Komposition. Sie abstrahiert historische Stile und orientiert sich vielleicht auch an den damaligen expressionistischen Tendenzen in der Architektur.
Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / SIK_03-079063 / CC BY-SA 4.0
Die Südfassade mit dem expressionistischen Beton-Abspannturm als «Dachreiter» wurde 1989 leider markant verändert.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Die in den Beton eingeprägte Beschriftung betont die archaische Wucht der Wasserkraft. Das zweite «g» des Wägitals ging gemäss den Karten der Landestopographie um 1930 verloren.
Das wiederkehrende Motiv der oben mit einem Spitz abgeschlossenen Fensteröffnung erinnert vage an Kristalle. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg behandelten Architekturgruppierungen in Deutschland sie als Kunstsymbole. Bei der Ostfassade zeigt sich, dass die Symmetrie mit den betrieblichen Anforderungen nicht mehr haltbar war; breite eckige Lüftungsschächte interferieren mit der stilisierten Formgebung und kündigen eine weitaus sachlichere Architekturauffassung an.
Weitgehend leerer Palast
Parallel zum Maschinenhaus verläuft weiter östlich das Schalthaus. Es ist deutlich ausgedehnter, seine Längsfassaden messen rund 130 Meter. Das Gebäude wurde von Roger Rüegg von der Denkmalpflege des Kantons Schwyz auf dem von ihm geleiteten Teil der Besichtigungstour mit einem barocken Palast verglichen. Das Halbrund des zentralen, vorspringenden Treppenhauses bildet die Symmetrieachse. Vor dem Schalthaus dehnt sich eine unbebaute Wiese aus, welche die grossen Ausmasse gut zur Geltung bringt. Südlich von ihm, am Hang etwas erhöht erbaut, befinden sich drei Mehrfamilienhäuser mit Walmdächern, die ebenfalls von den Gebrüder Bräm geplant wurden. Diese vom Siedlungsgebiet etwas entrückte «Kolonie» diente während dem Bau den leitenden Angestellten als Wohnstätte, später dann den Mitarbeitenden. Heute gehören die nicht besonders sensibel sanierten Häuser nicht mehr dem Kraftwerk.
Gegliedert wird das Schalthaus auf beiden Längsseiten durch eine Galerie mit eingerückten, schräg positionierten Fenstern, die direkt unter dem Ziegeldach angeordnet sind. Sie versorgten die Kontrollgalerien des Schalthauses mit Tageslicht. In seiner Funktion wurde der Palast von der Entwicklung der Technik überholt. Schaltanlagen stehen heute im Freien, damals schuf man dafür sicherheitshalber ein prächtiges Gehäuse. Am Südende ist ein Transformator einquartiert, im Parterre eine Verteileinrichtung. Doch die meisten Räumlichkeiten stehen heute leer. In einigen werden Boote eingelagert. Da sich das Schalthaus auf dem eingefriedeten Areal befindet, ist eine Umnutzung schwierig. «2040 läuft die Konzession aus», kommentierte Christian Stockinger die Aussichten der Anlage in Siebnen, «wer weiss was dann geschieht?»
Quelle: Manuel Pestalozzi
Die sanierte Schrähbachbrücke überquert einen Seitenarm des Stausees.
Brücke in halbkünstlicher Natur
Der «Retter» der Schrähbachbrücke, Ingenieur Jürg Conzett von Conzett Bronzini Partner AG, beteiligte sich am Rundgang durch die Zentrale. An dessen Ende wurde bekannt, dass er zuvor eine Gruppe von Ingenieuren begleitet hatte, die in den Genuss einer «Einführung» mit genauen Informationen kam, eine Stunde vor dem im Programm angegebenen Besichtigungstermin bei der Brücke. Deshalb muss sich der Verfasser dieses Textes in Sachen Informationen auf allgemein Bekanntes beschränken.
Der Sanierung der Schrähbachbrücke ging ein langer Kampf voraus, der zwischen Fachkräften und den zuständigen Behörden ausgetragen wurde. Letztere beabsichtigten den Ersatz durch einen Neubau mit breiterer Fahrbahn. Diverse Fachinstitutionen und -verbände setzten sich während Jahren, durch zahlreiche Instanzen und letztlich erfolgreich für den Erhalt der Brücke ein. Diese war bereits kurz nach der Fertigstellung verändert worden. So schloss man beispielsweise die Felderzwischen dem Brückenbogen und den Versteifungsträgern – der für Maillart-Brücken typische «luftige» Eindruck ging dadurch verloren.
Die Sanierung behielt den bestehenden Zustand weitgehend bei, die Brücke wurde also nicht in einen Ursprungszustand zurückgeführt. Die markantesten Eingriffe sind – diskret genug – Entwässerungsrohre, welche das Wasser auf der Fahrbahn direkt in den kleinen Seearm abführen, den die Brücke überquert. Am südlichen Ende wurde eine kleine Ausweichstelle ins Brückenwerk integriert, eine gestalterisch gelungene Massnahme, welche den Charakter des Werks unterstützt. Die Granitabdeckungen der Brückenbrüstung liessen sich vorwiegend mit vorhandenen Elementen in diesen kleinen Neubauteil weiterführen.
Dank der umsichtigen, fachkundigen Reparatur lässt sich der kleine Seearm mit dem sich dramatisch über einen malerischen Felsen stürzenden Schrähbach wie seit eh und je überqueren: auf einer relativ engen, von Brüstungen eingefassten Maillart-Brücke. An diesem Ort ist der künftige Betrieb einer historischen Passage durchaus vertretbar, denn die Seeuferstrasse ist alles andere als eine Hochleistungspiste; sie dient primär dem Tourismus und der ortsansässigen Landwirtschaft. Einem Mitglied der Ingenieurgruppe liess sich ein Kostenvergleich entlocken. Die neu projektierte Brücke hätte 1,98 Millionen Franken gekostet, die Sanierung sei auf 1,74 Millionen zu stehen gekommen.
Quelle: Manuel Pestalozzi
Bei der südlichen Zufahrt der Schrähbachbrücke wurde eine kleine Ausweichstelle geschaffen.