07:50 BAUBRANCHE

Erdbeben: Drohen traditionelle Bauweisen zu verschwinden?

Geschrieben von: Pascale Boschung (pb)
Teaserbild-Quelle: Keystone

Erdbebensicheres Bauen gewinnt durch Katastrophen wie in Marokko an Bedeutung. Im Fokus stehen dabei auch die traditionellen Bauweisen, deren Akzeptanz in Erdbebengebieten zunehmend schwindet. Ein Beispiel dafür ist der Lehmbau.

Zerstörte Häuser nach Erdbeben in Marokko

Quelle: Keystone

Am 8. September 2023 ereignete sich ein Erdbeben in Marokko; es hatte eine Magnitude von 6,8 Mw. Bei dem stärksten Beben in der Region seit über 100 Jahren kamen mehr als zweitausend Menschen ums Leben.

Nicht Erdbeben fordern Menschenleben, sondern einstürzende Gebäude, heisst es oft von Experten, wenn die Erde wieder einmal bebt. Bekanntlich muss ein Gebäude entweder mitschwingen oder aber fest genug gebaut sein, um den statischen Kräften standhalten zu können. Weltweit werden dafür verschiedene Konzepte verfolgt. 

In Japan bevorzugen Bauingenieure flexible Stahlstrukturen, die den Wellen eines Erdbebens bis zu einem gewissen Grad nachgeben und langsam hin- und herschwingen. Die Idee dahinter: Flexible Gebäude, die auf den Erdbebenwellen «reiten». Denn ein Bauwerk, das sich während eines Bebens bewegt, absorbiert Energie. 

Dafür werden manchenorts ganze Häuser auf Schwingungsdämpfern erstellt, die die Bewegungen der Erde sozusagen glattbügeln. Das können riesige Kissen aus Gummi oder Stahl aber auch durchdachte Konstruktionen im Innenbereich sein.

Stahlkugel als Dämpfer für Schwingungen

Ein imposantes Beispiel für einen Schwingungsdämpfer im Innenbereich ist der 508 Meter hohe Wolkenkratzer «Taipei 101» in Taipeh in Taiwan, einer Region, die konstant von Erdbeben bedroht ist. Im Inneren des Hochhauses befindet sich eine 660 Tonnen schwere, goldene Stahlkugel mit einem Durchmesser von fünf Metern, die an 16 oberarmdicken Stahltrossen aufgehängt ist.

Ein Video zeigt, wie sich die Stahlkugel des «Taipei 101» bei einem Taifun bewegt.

Bebt der Grund, dient die Konstruktion als riesiges Tilgerpendel, welches den hohen Turm vor extremen Schwankungen bewahrt. Bei Erschütterungen schwingt die Kugel mit ölhydraulischen Dämpfungselementen den Kräften entgegen, absorbiert dabei Energie und balanciert das wankende Gebäude damit aus. Der Dämpfer hilft aber nicht nur bei Erdbeben, sondern auch bei Taifunen (siehe Video oben).

Im krassen Kontrast zu solchen Konstruktionen stehen Gebäude, die mit traditionellen Bauweisen erstellt wurden. Deren globale Bedeutung hinsichtlich der Einsturzgefahr durch Erdbeben ist nicht zu unterschätzen: Etwa 30 Prozent der Weltbevölkerung und rund 50 Prozent der Menschen in Entwicklungsländern leben laut der «World Housing Encyclopedia» (WHE) in Bauten aus Lehm, Stampflehm oder ähnlichen Materialien.

Die WHE ist ein Online-Archiv, dass sich der Sammlung von Ressourcen und Informationen zum Wohnungsbau in seismischen Gebieten verschrieben hat. Mehr als 180 Architekten und Ingenieure aus aller Welt haben dafür auf der Datenbank ausführliche Wohnbauprofile aus 47 Ländern zur Verfügung gestellt. Ziel der WHE ist der Austausch von Erfahrungen zu verschiedenen Bauarten sowie die Förderung des Einsatzes erdbebensicherer Technologien auf der ganzen Welt.  

Lehm gehört global zu den ältesten und am häufigsten verwendeten Baumaterialien. Die Verwendung des natürlichen Materials geht bis 8000 v. Chr. zurück und ist in einigen der am stärksten von Erdbeben bedrohten Regionen der Welt wie Lateinamerika, Afrika, dem indischen Subkontinent sowie anderen Teilen Asiens und dem Nahen Osten weit verbreitet.

Unesco-Welterbe Stadt Aït Ben Haddou in Marokko

Quelle: Dan Lundberg flickr CC BY-SA 2.0

Durch das Erdbeben in Marokko wurden laut Medienberichten 27 historische Stätte beschädigt, hauptsächlich in Marrakesch, Taroudant und Ouarzazate. Neben der Tinmal-Moschee, die grosse Schäden davontrug, geriet auch die als Unesco-Weltkulturwerbe gelistete Stadt Aït Ben Haddou – in diesem Bild noch unversehrt – in Mitleidenschaft.

Ändert sich jahrhundertealte Bauweise?

In Peru bestehen nach Angaben der WHE laut einer Volkszählung von 2007 fast 40 Prozent der Häuser aus Lehm. In Indien sind es gemäss einer Zählung von 2001 total 30 Prozent aller Gebäude, was – wie der Enzyklopädie zu entnehmen ist – etwa 73 Millionen Häuser im Land betrifft. Dabei ist Lehm vor allem für einkommensschwache Haushalte das Material der Wahl, da es kostengünstig ist und im Sommer im Innern für ein kühles Raumklima sorgt, während es im Winter die Wärme zurückhält.

Für Erdbeben ausgelegt ist die Bauweise allerdings nicht. Das zeigte sich erst kürzlich im Süden von Marokko, wo am 8. September ein verheerendes Erdbeben im Hohen Atlas, etwa 70 Kilometer südwestlich von Marrakesch, zahlreiche Menschenleben forderte. Mit einer Stärke von 6,8 war dieses zwar weniger stark als jenes in der Türkei und Syrien vom Februar, für Marokko war das Beben aber ungewöhnlich gross.

Hinzu kam, dass sich das Epizentrum in einem Gebiet befand, in dem die Mehrheit der Bevölkerung in Lehmhäusern wohnt und unbewehrte Mauerwerkskonstruktionen weit verbreitet sind. Die Bauart jener Häuser trägt dabei den harschen klimatischen Bedingungen im Gebirge Rechnung, da die meisten Bauten über kein Heizsystem verfügen.  

Die Bauweise habe sich durch jahrhundertelange Erfahrung mit Regenfällen, Überschwemmungen und starkem Schneefall in der Bergregion bewährt, schreibt Brahim El Guabli. Er ist ausserordentlicher Professor für Arabistik und Vergleichende Literaturwissenschaft am Williams College in Williamstown (USA), der sich auf die Kultur der Berber respektive der Amazigh spezialisiert hat. 

Vor diesem Hintergrund liege es nahe, dass die Menschen Lehmhäuser den Betongebäuden vorzogen. Weil es in diesem Teil des Landes zuvor noch nie ein Erdbeben dieser Stärke gegeben hatte, gab es auch keinen Grund, der die Menschen dazu veranlasst hätte, die traditionelle Bauweise aufzugeben, so El Guabli. Für ihn ist klar, dass sich die Bauweise im Hohen Atlas nun verändern wird. «Ein Architekturstil kann verschwinden, und so in Zukunft Leben vor weiteren Erdbeben schützen».

Moschee Tinmal in Marokko vor Erdbeben

Quelle: Sambasoccer27 - Eigenes Werk wikimedia CC BY-SA 4.0

Die Moschee von Tinmal vor dem Erdbeben. Das Kulturdenkmal lag nur sechs Kilometer vom Epizentrum entfernt.

Moschee Tinmal nach Erdbeben

Quelle: Anfas press wikimedia CC BY 3.0

Beim Erdbeben wurde die Moschee massiv beschädigt. Das Minarett, die Arkaden des Gebetsaals und Stampflehmmauern sind eingestürzt. Das Dach des Gebetsaals mit einem berühmten Muqarnas-Dekor wurde ebenfalls zerstört.

Traditionelle Bautechniken verstärken

Laut Mehrdad Sasani, Professor für Bau- und Umweltingenieurwesen an der amerikanischen Northeastern University, ist es wegen der begrenzten wirtschaftlichen und technischen Ressourcen aber schwierig, in der weitgehend unerschlossenen Region erdbebensicheres Bauen als gängige Praxis umzusetzen. «Standards zu haben ist eine Sache, die Umsetzung ist eine andere». Wichtige Faktoren sind laut dem Professor die wirtschaftlichen und technischen Ressourcen.

Einen anderen Ansatz verfolgen dagegen Wissenschaftler der Katholischen Universität in Peru – dabei wird auf eine Art Selbsthilfe der Bewohner gesetzt. An der Universität wird seit den 1970er-Jahren erforscht, wie sich Lehmbauten auf einfache Weise verstärken lassen. Dabei wurden beispielsweise Lehmbaumodule mit einem Drahtgeflecht erfolgreich stabilisiert. Später erarbeitete man dazu auch Schulungsprogramme und stellte Werkzeugkits für abgelegene Dörfer zusammen.

Den Bewohnern wurde dabei gezeigt, wie sie ihre Lehmhäuser selbst verstärken können, indem sie die Wände mit geschweisstem Drahtgeflecht oder «Geogrid» – einem Kunststoffgitter, das zur Stabilisierung von Hängen oder gegen Bodenerosion eingesetzt wird – umwickeln. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der Universität zeigt: Die meisten Lehmbauten, die vor rund 20 Jahren mit Drahtgeflecht ausgestattet wurden, stehen noch immer und haben auch die Erdbeben in Peru von 2001 und 2007 mit einer Magnitude von 8,4, respektive 8,0 Mw überstanden.

Lehmbauweise mit Superadobe

Quelle: Gabriel Anast from Gallup, US - Tube walls wikimedia CC BY-SA 2.0

Bei «Super Adobe» handelt es sich um eine Mischung aus Lehm, der mit Kalk angereichert und dann in lange Stoffschläuche oder Beutel gefüllt wird, die wie Sandsäcke übereinandergestapelt zu Gewölbestrukturen aufgebaut und im Inneren mit Stacheldraht verbunden werden.

Super-Lehm als Lösung?

In Zentralmexiko wird derweil auf «Super Adobe» gesetzt – Adobe ist der spanische aber auch englische Begriff für Lehmziegel. Dabei handelt es sich um eine Mischung aus Lehm, die mit Kalk angereichert und dann in lange Stoffschläuche oder Beutel gefüllt wird, die wie Sandsäcke übereinandergestapelt zu Gewölbestrukturen aufgebaut und im Inneren mit Stacheldraht verbunden werden. Die daraus resultierenden bienenstockförmigen Strukturen verwenden Kragbögen und -kuppeln sowie Kraggewölbe, und bilden damit stabile einfach oder doppelt gekrümmte Schalen.  

Erfunden hatte den «Super-Lehm» der iranisch-amerikanische Architekt Nader Khalili in den 1980er-Jahren. Seither findet die rudimentäre Bauweise vor allem bei temporären Bauten Anwendung, etwa in Flüchtlingslagern wie dem Baninajar Camp im irakischen Chuzestan. Im kalifornischen Hesperia hat Khalili zudem auf dem Campus des California Institute of Earth Architecture mit dem «Earth One»-Haus einen stabileren Prototyp mit dieser Bauart zur Langzeitnutzung erstellt.

Für den Testbau, der sich aus drei Gewölberäumen zusammensetzt, wurden neben Lehm auch Bindemittel verwendet sowie ein Verputz aufgetragen. Danach testete man den Prototyp hinsichtlich seiner Stabilität unter realen Bedingungen im harschen Klima der Mojave-Wüste. Schlussendlich wurde der Bau für die Erdbebenzone 4 im US-Bundesstaat zugelassen – diese Zone mit strengen Bauvorschriften gilt in den USA für Gebiete mit den stärksten Erdbeben-Bodenbewegungen.

Bau eines Lehmhauses mit SuperAdobe

Quelle: DVIDSHUB flickr CC BY 2.0

Die bienenstockförmigen «Super Adobe»-Strukturen verwenden Kragbögen, -kuppeln und -gewölbe. Im Bild: Einwohner bauen im abgelegenen Dorf Karatbi San in Dschibuti ein Haus.

Das besondere an der Bauweise mit «Super Adobe» ist seine Adaptierbarkeit. Denn sie eignet sich für eine Vielzahl an Materialien. Auch wenn in der Regel Sand, Zement oder Kalk favorisiert werden, lässt sich je nach Region auch Kies, zerkleinertes Vulkangestein oder Reishülsen als Füllmaterial nutzen. Als Verputz der aufgestapelten Wände dienen Erde und Kalk, möglich sind aber auch gemahlene Gräser oder Tiermist, wodurch die Bauweise praktisch überall angewendet werden kann.

Da die Bauweise seit ihrer Erfindung in verschiedensten Ländern angewandt wird, hat sich auch bereits gezeigt, dass die Lehmbauten von Khalili Erdbeben tatsächlich standhalten können. 2015 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,2 Nepal – viele der dort gebauten «Super Adobe»-Häuser haben der Naturgewalt stand gehalten. Ob traditionelle Bauweisen wie der Lehmbau durch Erdbeben also tatsächlich verschwinden werden, bleibt fraglich. Lösungen und Ansätze gibt es viele.

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Redaktorin Baublatt

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