Ausstellung: Sind Ersatzneubauten nachhaltiger als der Erhalt bestehender Gebäude?
Sind Ersatzneubauten nachhaltiger, als der Erhalt bestehender Gebäude? Solche Fragen stellt die Ausstellung „Verdichtung oder Verdrängung? Wenn Neubauten ersetzen“ im Zentrum für Architektur Zürich. Sie liefert eine Bestandsaufnahme wie die Stadt Zürich mit dem Thema umgeht und regt zum Nachdenken an.
Quelle: Jennifer Duyne Barenstein
Abriss eines Mehrfamilienhauses in Zürich Altstetten im Juli 2022.
Pro Jahr produziert die Schweiz rund 80 bis 90 Millionen Tonnen Abfall. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Umwelt (Bafu). Hauptverursacherin ist die Baubranche: So handelt es sich bei 57 Millionen Tonnen oder bei knapp zwei Dritteln des gesamten Abfallaufkommens laut Bafu um Aushub- und Ausbruchmaterial. Weitere 17 Millionen Tonnen – oder ein Fünftel – löst der Rückbau von Gebäuden, Strassen und Bahntrassen aus. Diese Zahlen verdeutlichen nicht nur das grosse Ausmass das Abfalls, den die Bautätigkeit zur Folge hat, sondern auch, dass die Branche boomt.
Augenfällig ist das zum Beispiel in der Stadt Zürich, wo seit den Nullerjahren eine rasante Baudynamik beobachtet werden kann. Allerdings wächst die Stadt zunehmend nicht mehr in die Breite, sondern in die Höhe. Baulandreserven sind ein rares Gut geworden, und für die stetig wachsende Bevölkerung braucht es Wohnraum. Dieser soll nachhaltig sein und die Ressourcen schonen. Verdichtung nach Innen ist die Lösung, und sie geschieht gegenwärtig vor allem über Ersatzneubauten.
Eine Veloparking von Calatrava beim Bahnhof Stadelhofen
Je nachdem werden dazu auch Objekte aus dem Inventar schützenswerter Objekte entlassen. So geschehen mit dem „Haus zum Falken“ beim Bahnhof Stadelhofen. Das über 200jährige Gebäude, in dem sich einst das Café Mandarin befand, ist rückgebaut worden. Zurzeit gähnt an seiner Stelle eine Baugrube: Hier errichtet die Axa, die das Grundstück vor rund 16 Jahren erworben hat, ein Bürogebäude, das entfernt an eine Art gigantischen Heizkörper erinnert und das aus der Feder von Santiago Calatrava stammt. Zur Umweltverträglichkeit soll unter anderem eine unterirdische Velostation mit 800 Abstellplätzen beitragen, denn wie die Axa auf der Website zum Projekt schreibt, unterstützt sie damit die Bestrebungen der Stadt Zürich für eine nachhaltigere Stadtmobilität. Oder vielmehr verschwinden mit dem neuen Gebäude die unzähligen, wild parkierten Fahrräder vom Platz vor dem Bahnhof.
Ein ähnliches Schicksal wie dem „Haus zum Falken“ droht zahlreichen Bauten in Zürich – oder hat es schon ereilt. Viele davon und weitere in der ganzen Schweiz kann man unter www.abriss-atlas.ch einsehen: Hinter der interaktiven Karte, auf der abgebrochene oder dem Abriss geweihte Bauten eingetragen sind und auf der solche vermerkt werden können, steckt mit „Countdown 2030“, eine Gruppe Architekturschaffender, Planerinnen und Planer, die sich „für eine hohe Baukultur“ einsetzen, „die Zukunft hat“. „Die Erstellung, der Betrieb und der Abriss von Gebäuden verursachen 40 Prozent des weltweiten Co2-Ausstosses“, schreiben sie auf ihrer Website (www.countdown2030.ch). Hier müsse sich dringend etwas ändern. Und so kann man denn im Abriss-Atlas auch in der aktuellen Ausstellung im Zentrum für Architektur Zürich (ZAZ) stöbern. Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem MAS Geschichte und Theorie der Architektur (GTA) und dem MAS in Housing der ETH Zürich.
Unter dem Titel „Verdichtung oder Verdrängung? Wenn Neubauten ersetzen“ regt die Schau zum Nachdenken an, indem sie die Verdichtung nach Innen mittels Ersatzneubauten kritisch beleuchtet und hinterfragt.
Die sozialen und baulichen Folgen seien bislang nur ansatzweise erforscht, heisst es dazu in der Medienmitteilung des ZAZ. Die Transformation sei tiefgreifend, heisst es weiter. Als Beispiel wird Zürich Schwamendingen herangezogen. In dem Stadtteil werde bis zu einem Drittel des Wohnungsbestandes in den nächsten Jahrzehnten durch Neubauten ersetzt. „Auch was denkmalpflegerisch geschützt ist, ist Verfügungsmasse.“
Preisgünstiger Wohnraum verschwindet, bestehende Wohnbevölkerung wird verdrängt
Laut ZAZ geht der Abriss von Bestandsbauten nicht selten mit dem Verlust preisgünstigen Wohnraums und einer Verdrängung der bestehenden Wohnbevölkerung einher. Unter den Folgen leiden insbesondere Ältere, kinderreiche Familien und Personen mit geringem Einkommen. Davon erzählen vier ausführliche Fallbeispiele von Abrissprojekten, zusammengetragen und präsentiert hat sie das ETH Wohnforum. „Wenn ich jetzt in ein Altersheim komme, habe ich ein Problem. Die meisten werden dort kränker und älter, da sitze ich lieber in einer engen, teuren 3-Zimmer-Wohnung“, wird etwa ein Mieter der Genossenschaftssiedlung Lerchenhalde 20 zitiert. Das neunstöckige Wohnhaus mit 48 Ein- und Zweieinhalb-Zimmer-Wohnungen, in dem er zu Hause ist, soll einem Neubau oder vielmehr 100 Wohnungen Platz machen. Gemäss einem Bericht des Zürcher Mieterverbands sind viele, die hier wohnen über 70 Jahre alt und manche gar über 90.
Ein weiteres Beispiel ist die Siedlung Küngenmatt mit
Baujahr 1941: Aktuell umfasst sie 100 Wohnungen, ist sie mit Neubauten ersetzt,
bietet sie 149 Eineinhalb- bis Viereinhalb-Zimmer-Wohnungen. Betroffen von den
Neubauplänen seien rund 130 Personen, meldete die Neue Zürcher Zeitung vor
rund einem Jahr, als die Besitzerin Credit Suisse (CS) über ihr Vorhaben
informierte. Heute gebe es hier viele Singlehaushalte; das solle sich im Neubau
ändern. „Statt der 130 sollen dort 290 Personen wohnen.“
Bewegen sollen sich die Mieten laut CS „in einem für den Kreis 3 marktüblichen Rahmen für Neubauten“. Wie die CS in ihrer Medienmitteilung schrieb, würden in den kommenden Jahren „sehr umfassende Renovationen“ anstehen, unter anderem bauliche Anpassungen zur deutlichen Verbesserung der Energieeffizienz und der Zugänglichkeit für Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung. Man habe deshalb eine Standortbestimmung vorgenommen und entschieden, die Siedlung durch einen Neubau zu ersetzen. – Noch bleibt denjenigen, die hier wohnen, etwas Zeit. Sie müssen bis 2025 ausziehen.
Blick nach Glasgow, Turin und Hamburg
Daneben stellt die Schau Zürich andere Städte
gegenüber und zeigt auf, welchen Weg diese im Umgang mit Ersatzneubauten
eingeschlagen haben. Auch hier gibt es keine endgültigen Antworten oder
Lösungen, sondern Denkanstösse. Während etwa in Turin, Glasgow und in der Île-de-France
respektive im Grossraum von Paris die Architektur einen klaren Bruch mit der
Vergangenheit darstellen soll und auf diese Weise oft das Gegenteil von
Verdichtung bewirkt wird, ermöglicht die Stadt in Porto, Vancouver und Peking eine höhere Dichte,
um so der Privatwirtschaft Anreize zu bieten, sozialen Wohnungsbau mit
Luxusprojekten zu finanzieren. Ähnlich wie Zürich ist man in Minneapolis in den
USA und Hamburg unterwegs: Hier versucht die Stadt mit Bodenrechtsänderungen
und grosszügigen Subventionen dafür zu sorgen, dass die Mieten sinken und zu
alte Bauten ersetzt werden.
Die Ausstellung Verdichtung oder
Verdrängung? Wenn Neubauten ersetzen im Zentrum für Architektur Zürich dauert noch bis zum 16. April.
Öffnungszeiten: Mittwoch bis Sonntag, 14 bis 18 Uhr.
Weitere Infos auf www.zaz-bellerive.ch
Lesetipp: Mehr zum Abriss-Atlas im Artikel Abriss-Atlas: «Heutige Rahmenbedingungen begünstigen den Neubau» vom 13. Juli 2022